Die drei hier referierten Autoren zeigen, dass Trump vorläufiger Höhepunkt einer langen Entwicklung ist: der Spaltung der amerikanischen Gesellschaft in zwei radikal unterschiedliche soziale Milieus. Diese Spaltung ist heute weniger ökonomisch als vielmehr kulturell begründet. Der Kampf, der heute in den USA ausgetragen wird, ist soziologisch ein Kampf von städtischen Zentren gegen eher ländliche Regionen, von urbaner, akademischer Elite gegen erzkonservative, radikale Evangelikale und waffenstarrende, militante Mittelklassenangehörige, und nicht zuletzt ist es ein Kampf von Jung gegen Alt, Schwarz gegen Weiß. Aber nicht nur die alten weißen Männer sondern auch Selbstständige jeglicher Ethnie und jegliche Geschlechts in der Stadt und auf dem Land finden sich auffallend stark unter den Trump-Wählern. Ihr Motiv: Sicherheit und Ordnung, Furcht vor den Riots, niedrige Steuern.


Ideologisch ist es auch ein Kampf zwischen Anhängern von Öffentlicher Sicherheit und Wirtschaftsorientierung gegen solche, denen Antirassismus, Diversität, Black Lives Matter, LGBT, Corona-Pandemie wichtigere Themen sind.
Insgesamt, man schaue sich die Bilder von der Erstürmung des Capitols am 6. Januar an, ist es ein “klassenübergreifender” Aufstand, getragen von einem Querschnitt der amerikanischen, weißen Bevölkerung. Ein Aufstand von “They maced me-Elizabeth” aus Knoxville, Tennessee gegen Nancy Pelosi aus Baltimore, Maryland. Eine Revolte der Provinz gegen Washington, der "weißen " Peripherie gegen das Zentrum.
"Murder the Media"
Thomas Frank und Torben Lütjen weisen aber auch auf die Radikalisierung der Demokratischen Partei in ihrer Hinwendung zu einer extremen Politik der Diversität hin, die zur Spaltung des Landes beiträgt.
Die eigentlich Abgehängten der amerikanischen Unterklasse, “die armen Amerikaner, die in verwahrlosten Vorstädten von fettem Fastfood leben” (So Claudius Seidl abschätzig in der FAS vom 1.11.20) wählen vermutlich überhaupt nicht. Bei der Komplexität des amerikanischen Wahlsystems und dem Aufwand, der getrieben werden muss um sich als Wähler zu registrieren und auch tatsächlich wählen zu können, auch kein Wunder.
Die jüngste Präsidentenwahl mit dem Erfolg von Joe Biden zeigt nicht, dass die Spaltung des Landes gestoppt wurde, sondern spiegelt nur die reale Kräfteverteilung zwischen den beiden amerikanischen Milieus wider.
Es bleibt offen, ob Biden diesen Prozess aufhalten kann oder ob Trump wieder zurück kommt. Ich bin eher pessimistisch, denn das Problem mit Trump sind seine Wähler: 74 Millionen.
Wahlsystem und Wahlrecht
Die Ursache für diese deprimierende Diagnose liegt, neben der fatalen Spaltung der Medien des Landes in zwei sich bekämpfende, jeweils die eigene Klientel bedienende Echokammern, auch in zwei Besonderheiten des us-amerikanischen politischen Systems. Zum einen in dem zersplitterten, dysfunktionalen und zutiefst ungerechten Mehrheitswahlsystem, in dem jeder Bundesstaat, und vielerorts jeder Bezirk, seine eigenen Regeln der Wahl und Wahlauszählung hat. Es beginnt schon mit der Wahl der Präsidentschaftskandidaten, die zum Beispiel in Iowa, Kansas, Maine durch Caucus erfolgt (offene Stimmabgabe in lokalen Parteibüros durch Handaufheben oder Wahl einer Ecke des Raumes), während andere Staaten Primaries (geheime Wahlen registrierter Parteianhänger - nicht Mitglieder!) abhalten. Noch absurder: In Idaho und Nebraska veranstaltet nur die Demokratische Partei, in Montana nur die Republikanische Partei Caucuses.
Die Stimmen bei der eigentlichen Präsidentenwahl am Wahltag gehen nicht direkt an die Kandidaten sondern an Wahlmänner nach dem Mehrheitsprinzip, d.h.: the winner takes it all. Ausgenommen aber wiederum in Staaten wie Maine und Nebraska, wo die Stimmen anteilmäßig auf die Wahlmänner größerer Bezirke verteilt werden.
Es gibt absurd zugeschnittene Wahlbezirke (sogenanntes Gerrymandering), die schwarze Bezirke systematisch benachteiligen.
In Wisconsin gibt es 99 Wahlbezirke, die der republikanisch dominierte Senat des Staates derart filigran filetiert hat, dass demokratische Wahlsiege sich in einigen wenigen Bezirken ballen; und obwohl die Demokraten zuletzt 60 bis 65 Prozent der Stimmen erobert haben, halten die Republikaner immer noch die Mehrheit in ebenjenem Senat, der die Wahlbezirke einteilt.
Klaus Brinkbäumer / Stephan Lamby: Im Wahn. Die Amerikanische Katastrophe. C.H. Beck Verlag, München 2020
In manchen Staaten sind Studentausweise als Legitimation nicht zugelassen, aber Waffenbesitzkarten sehr wohl. In anderen werden Wahllokale in so geringere Zahl aufgestellt, dass stundenlanges Warten an einem Arbeitstag unumgänglich ist. Anderswo werden Briefkästen abmontiert um die Abgabe der Briefwahl zu behindern oder man richtet wie in Georgias Südosten für mehrere Millionen Bürger ein einziges Wahlbüro für Frühwähler ein.
Es gibt kein nationales Wahlrecht für die nationale Präsidentschaftswahl; jeder Staat hat seine eigenen Regeln. Das “stellt die Demokratie, wie wir sie kennen, auf den Kopf.” (Jörg Schönenborn, FAZ 3.11.2020, S.15)
(Mehr zum Wahlverfahren in den unterschiedlichen Staaten siehe hier: How the US counts votes
Zweiparteiensystem
Die zweite Ursache für die Spaltung des Landes folgt aus der ersten: Die “Versäulung” des amerikanischen Parteiensystems Es gibt nur zwei Parteien, die sich ernsthaft Chancen auf eine Machtbeteiligung ausrechnen können, die Republikaner und die Demokraten. Beide Parteien haben in der Mitte des politischen Spektrums eine stabile Anhängerschaft und konzentrieren sich deshalb immer mehr auf ihre extremen Flügel, die sich sozial konträr und politisch unversöhnlich gegenüberstehen.
Wird Joe Biden diese tiefe Spaltung überwinden können? Und wie soll das gelingen, wenn die eine Hälfte des Landes von einem staatsfernen Leben träumt und die andere von einem eingreifenden Staat, der allen sozialen Gruppen eigene Rechte und Förderprogramme gewähren soll?
Und ich frage mich im Dezember 2020, nach den abgeschlossen Präsidentschaftswahlen und dem Sieg Joe Bidens:
Ist der amerikanische Alptraum jetzt vorbei oder beginnt er erst? Eine Antwort darauf ist möglicherweise:
Washington, 6. Januar 2021
Weiterführendes Material
Zur Mentalität amerikanischer Evangelikale empfehle ich das Buch von
Tara Westover: Educated - A Memoir (Deutsch „Befreit: Wie Bildung mir die Welt erschloss“).
Rezensionsübersicht beim Perlentaucher
Zu Trumps sozialer Basis:
"Trump versteht die Amerikaner besser als irgendein anderer"
Trump-Anhänger sind frustrierte, ältere, weiße Männer mit geringer Bildung? Mitnichten.
Interview: Carolin Gasteiger SZ 11. November 2016, 16:11 Uhr US-Wahl
Zu ähnlichen Ergebnissen wie Hochschild kommt
Katherine J. Cramer: Was Amerikas "Abgehängte" wirklich bewegt
Katherine J. Cramer: The Politics of Resentment: Rural Consciousness in Wisconsin and
the Rise of Scott Walker (Chicago Studies in American Politics).
SZ 18. Januar 2017
Zum Wahl- und Parteiensystem:
The Electoral College, explained. Why some Americans’ votes count more than others.
Youtube Video
Karl-Rudolf Korte: The Winner takes it all? Das Wahl- und Parteiensystem der USA
Online Angebot der Bundeszentrale für politische Bildung
Außerdem:
Klaus Brinkbäumer/Stephan Lamby: Im Wahn. Die amerikanische Katastrophe.
Sonderausgabe für die Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Band 10 630. Bonn 2020.
Julia Kastein/Sebastian Hesse-Kastein: Great Again? Reportagen aus einem zerrissenen Amerika.
Sonderausgabe für die Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Band 10 604. Bonn 2020.
Neuerscheinungen
Ein tief gespaltenes Land. Sechs neue Sachbücher beschreiben die USA unter der
Präsidentschaft Donald Trumps – und den neu gewählten Präsidenten Joe Biden.
Von Dieter Kaltwasser
Besprochen werden:
Klaus Brinkbäumer / Stephan Lamby: Im Wahn. Die amerikanische Katastrophe.
Verlag C. H. Beck,
München 2020.
Stephan Bierling: America First. Donald Trump im Weißen Haus.
Verlag C. H. Beck,
München 2020.
Bérengère Viennot: Die Sprache des Donald Trump.
Aus dem Französischen von Nicola Denis.
Aufbau Verlag, Berlin 2019
Evan Osnos: Joe Biden. Ein Porträt.
Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff und Stephan Gebauer.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
Philip Gorski: Am Scheideweg. Amerikas Christen und die Demokratie vor und nach Trump.
Mit einem Vorwort von Hans Joas.
Herder Verlag, Freiburg 2020
Timothy Snyder: Die amerikanische Krankheit. Vier Lektionen der Freiheit aus einem US-Hospital.
Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn.
Verlag C. H. Beck, München 2020.
Zum Start der Artikelfolge über "Mein Amerika und Trump":
Klick