So fand ich vor längerer Zeit auch Elizabeths Strouts “Mit Blick aufs Meer” im Bücherschrank und war völlig überrascht, dass ich beim ersten Durchblättern auf einen Namen stieß, den ich aus einer Verfilmung kannte, und den ich schon deshalb mochte, weil Frances McDormand die Hauptrolle spielte: Olive Kitteridge.
Im heimlichen Mittelpunkt der Erzählungen steht eine alte Bekannte aus früheren Romanen (z.B. „Die Unvollkommenheit der Liebe“), Lucy Barton, “die in der Schule von allen verspottet wurde und nie in die Pausen ging”, aufgewachsen im tiefsten Prekariat (“Wir aßen vor Hunger aus Mülltonnen”) und die später als erfolgreiche Autorin in New York lebt. In vielen Geschichten spielt sie mit oder schwebt wie ein Geist über den Geschichten, so wie einst Olive Kitteridge.
Hätte Dottie so lange von sich geredet, dann hätte sie sich besudelt gefühlt, inkontinent. Das lag an der unterschiedlichen Sozialisation, wie sie mittlerweile wusste - wobei ihr schien, dass sie Jahre gebraucht hatte für diese Erkenntnis. Und ihr schien auch, dass diese Thematik der unterschiedlichen Sozialisation in ihrem Land heutzutage zu kurz kam. Und die Art der Sozialisation hing vom Milieu ab, worüber hierzulande natürlich erst recht niemand sprach, weil sich das nicht schickte, aber Dottie dachte bei sich, dass die Leute auch deshalb nicht über Milieu sprachen, weil ihnen der Begriff im Grunde nichts sagte. Hätten die Leute zum Beispiel gewusst, dass Dottie und ihr Bruder sich als Kinder aus Müllcontainern ernährt hatten, was würden sie daraus ableiten? Ihr Bruder bewohnte nun seit Jahren eine riesige Villa in einem Nobelvorort von Chicago und besaß eine Fachfirma für Klimaanlagen, und Dottie war gepflegt und adrett und bestens informiert über das Weltgeschehen und betrieb ihre Frühstückspension mit großem Erfolg, was würden die Leute also sagen? Dass sie und ihr Bruder Abel den amerikanischen Traum verkörperten und dass all die anderen, die nach wie vor aus Müllcontainern aßen, es nicht anders verdienten? Sehr viele Menschen wären insgeheim dieser Meinung. Shelly Small mit ihrem bulligen Mann und ihrem schütteren Haar wäre sogar ziemlich sicher dieser Meinung. (196)Elizabeth Strout zu lesen heißt für mich immer noch, Einblick in ein Land zu gewinnen, das mir durch seine Kultur so nahe und durch seine Politik so fremd geworden ist: die Vereinigen Staaten von Amerika.