Der Titel sagt schon fast alles: Da ist einer mächtig unters Rad gekommen, oder, wie man auch sagen könnte, ganz tief gefallen.
“Hans Giebenrath war ohne Zweifel ein begabtes Kind”, heißt es (S.8) und dieses begabte Kind wird zuerst auch allen Erwartungen gerecht. Lernen bis zum Umfallen, von sehr früh morgens bis zum späten Abend, einschließlich zusätzlicher Stunden in Griechisch, Repetitionsstunden in Latein, und zweimal in der Woche zusätzlichen Mathematikstunden.
Das Leben für ein begabtes Kind Anfang des 20. Jahrhunderts war anstrengend und “fordernd", wie man heute sagen würde.
Er besteht das von seinen Lehrern angestrebte “Landexamen” des Staates (Württemberg) mit Glanz als Zweitbester von 118 Kandidaten, was ihn berechtigt, mit 38 anderen ins Landesseminar einzutreten um zum Pfarrer oder Lehrer ausgebildet zu werden:
“In schwäbischen Landen gibt es für begabte Knaben, ihre Eltern müssten denn reich sein, nur einen einzigen schmalen Pfad: durchs Landexame ins Seminar, von da ins Tübinger Stift und von dort entweder auf die Kanzel oder ans Katheder.” (S.9)Der alleinerziehende Vater wie das gesamte Dorf sind über alle Maßen stolz auf den Erfolg des jungen Mitbürgers und den zu erwartenden sozialen Aufstieg. Wenn, ja wenn nicht dem Zögling ein Mitzögling über den Weg laufen würde, und die sich daraus ergebenden jugendlichen Verwirrungen alle vielversprechenden Pläne zunichte machten. Es gibt kein Happy End.
Die Erzählweise und die Sprache von von Hermann Hesse ist etwas behäbig und biedermeierlich. Man wähnt sich in die Bilderwelt von Wilhelm Busch versetzt, wenn man die Beschreibungen dörflicher Idylle und schulischer Fährnisse liest. Aber das passt sehr gut zu Raum und Zeit und hat mich deshalb überzeugt. Auch gibt es Redewendungen aus dem Badisch-Württembergischen, die mich an meine Kindheit in Rastatt erinnerten.
“>>I sag*s ja<<,räsonierte er, >>früher han i von dene meine zehn Stück gessa.<< Und er denkt unter ungeheuchelten Seufzern an die Zeiten, da er noch zehn Wadelbirnen fressen konnte ehe er’s Grimmen bekam.” (S.129.)Und natürlich gibt es ein “Versucherle”.Am meisten überrascht haben mich die erstaunliche Parallelen zwischen der damaligen, klassisch-theologisch geprägten Elitebildung im stockkonservativen Württemberg und der “republikanischen” Elitebildung im heutigen Frankreich. Ich hätte nicht im geringsten damit gerechnet, solche bedrückenden Übereinstimmungen zu finden: Stumpfsinniges Pauken, Übersetzungen aus dem Griechischen. Lateinischen und Hebräischen ohne Ende, Rhetorik als höchste wissenschaftliche Qualifikation. Und natürlich: strengste Auslese der “Besten” durch härteste Prüfungen, Isolation von der Außenwelt, eine Gemeinschaft unter seinesgleichen und ein strenges und starres Bewertungssystem. Originalität wird ausschließlich vor dem Hintergrund der Klassiker geduldet.
Hesse schreibt zu diesem Bildungsgang:
“Seit langer Zeit hat man dies herrliche, weltferne gelegene, hinter Hügeln und Wäldern verborgene Kloster den Schülern des protestantisch-theologischen Seminars eingeräumt, damit Schönheit und Ruhe die empfänglichen jungen Gemüter umgebe. Zugleich sind dort die jungen Leute den zerstreuenden Einflüssen der Städte und des Familienlebens entzogen und bleiben vor dem schädigenden Anblick des tätigen Lebens bewahrt. Es wird dadurch ermöglicht, den Jünglingen jahrelang das Studium der hebräischen und griechischen Sprache samt Nebenfächern allen Ernstes als Lebensziel erscheinen zu lassen, den ganzen Durst der jungen Seelen reinen und idealen Studien und Genüssen zuzuwenden.”Hesse wusste, wovon er spricht. Er war selbst Schüler in Maulbronn. Und seine Kritik an der totalen Beanspruchung eines jungen Lebens durch die Schule ist heute noch aktuell.
Aus Anlass der Lektüre habe ich mit Sabine an einem schönen November-Samstag das nicht allzu weit entfernte, sehenswerte Kloster Maulbronn besucht, Schauplatz des Romans. Die “Eliteschule” gibt es immer noch. Sie heißt heute Evangelisches Seminar, und zur Aufnahme ist auch heute noch ein sogenanntes “Landexamen” erforderlich, ganz wie vor mehr als einhundert Jahren. Allerdings nicht mehr in den alten Sprachen:
Nach der Anreise und einer herzlichen Begrüßung am Sonntag, dauert die Aufnahmeprüfung, das sogenannte Landexamen, in der Regel von Montag bis Mittwoch. Um einen Überblick über die Leistungen in den Hauptfächern zu bekommen, werden Mathematik, Deutsch und Englisch schriftlich geprüft. In evangelischer Religion erfolgt eine mündliche Prüfung. Ein weiterer Bestandteil des Landexamens ist eine Präsentationsprüfung in einem der folgenden Fächer: Musik (mit Vorspiel), Latein, Französisch oder Geschichte. Am Landexamen teilnehmen und ins Seminar aufgenommen werden können alle evangelischen Schüler/innen der achten Klasse eines Gymnasiums. Quelle: http://www.seminar-maulbronn.de/Schwerpunkte der Schule sind Alte Sprachen, Religion und Musik. Allerdings sind nur noch 9. bis 12. Klassen in Maulbronn lokalisiert.
Weitere Infos hier: Klick
Ob die Lehrer (und heute auch: Lehrerinnen) immer noch so unduldsam sind wie Anfangs des 20. Jahrhunderts?
Die Erzählung "Unterm Rad gibt es auch als Video nachgestellt bei "Sommers Weltliteratur".
Im Anschluss an Hermann Hesse habe ich einen weiteren Coming-of-Age-Roman gelesen, der in einem Internat spielt. Diesmal keine Kritik am Leistungssystem der Schule, sondern ein Roman über das Erwachsenwerden, über Sexualität, Identität und Selbstfindungsprobleme. Robert Musils "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß".
Hier in der Kurzfassung bei Sommers Weltliteratur: Klick
Abschweifung
In Maulbronn soll auch die schwäbisch-badische Nationalspeise und sagenhaft gut schmeckenden Maultaschen, auch “Herrgottsbscheiserle” genannt, erfunden worden sein. Von Mönchen, die auch gerne in der Fastenzeit auf Fleisch nicht verzichten wollten. Fast zu schön, um wahr zu sein.