Montag, 9. Dezember 2019
Sonntag, 10. November 2019
Lernen bis zum Umfallen #2 - Hermann Hesse "Unterm Rad"
Der Titel sagt schon fast alles: Da ist einer mächtig unters Rad gekommen, oder, wie man auch sagen könnte, ganz tief gefallen.
“Hans Giebenrath war ohne Zweifel ein begabtes Kind”, heißt es (S.8) und dieses begabte Kind wird zuerst auch allen Erwartungen gerecht. Lernen bis zum Umfallen, von sehr früh morgens bis zum späten Abend, einschließlich zusätzlicher Stunden in Griechisch, Repetitionsstunden in Latein, und zweimal in der Woche zusätzlichen Mathematikstunden.
Das Leben für ein begabtes Kind Anfang des 20. Jahrhunderts war anstrengend und “fordernd", wie man heute sagen würde.
Er besteht das von seinen Lehrern angestrebte “Landexamen” des Staates (Württemberg) mit Glanz als Zweitbester von 118 Kandidaten, was ihn berechtigt, mit 38 anderen ins Landesseminar einzutreten um zum Pfarrer oder Lehrer ausgebildet zu werden:
“In schwäbischen Landen gibt es für begabte Knaben, ihre Eltern müssten denn reich sein, nur einen einzigen schmalen Pfad: durchs Landexame ins Seminar, von da ins Tübinger Stift und von dort entweder auf die Kanzel oder ans Katheder.” (S.9)Der alleinerziehende Vater wie das gesamte Dorf sind über alle Maßen stolz auf den Erfolg des jungen Mitbürgers und den zu erwartenden sozialen Aufstieg. Wenn, ja wenn nicht dem Zögling ein Mitzögling über den Weg laufen würde, und die sich daraus ergebenden jugendlichen Verwirrungen alle vielversprechenden Pläne zunichte machten. Es gibt kein Happy End.
Die Erzählweise und die Sprache von von Hermann Hesse ist etwas behäbig und biedermeierlich. Man wähnt sich in die Bilderwelt von Wilhelm Busch versetzt, wenn man die Beschreibungen dörflicher Idylle und schulischer Fährnisse liest. Aber das passt sehr gut zu Raum und Zeit und hat mich deshalb überzeugt. Auch gibt es Redewendungen aus dem Badisch-Württembergischen, die mich an meine Kindheit in Rastatt erinnerten.
“>>I sag*s ja<<,räsonierte er, >>früher han i von dene meine zehn Stück gessa.<< Und er denkt unter ungeheuchelten Seufzern an die Zeiten, da er noch zehn Wadelbirnen fressen konnte ehe er’s Grimmen bekam.” (S.129.)Und natürlich gibt es ein “Versucherle”.Am meisten überrascht haben mich die erstaunliche Parallelen zwischen der damaligen, klassisch-theologisch geprägten Elitebildung im stockkonservativen Württemberg und der “republikanischen” Elitebildung im heutigen Frankreich. Ich hätte nicht im geringsten damit gerechnet, solche bedrückenden Übereinstimmungen zu finden: Stumpfsinniges Pauken, Übersetzungen aus dem Griechischen. Lateinischen und Hebräischen ohne Ende, Rhetorik als höchste wissenschaftliche Qualifikation. Und natürlich: strengste Auslese der “Besten” durch härteste Prüfungen, Isolation von der Außenwelt, eine Gemeinschaft unter seinesgleichen und ein strenges und starres Bewertungssystem. Originalität wird ausschließlich vor dem Hintergrund der Klassiker geduldet.
Hesse schreibt zu diesem Bildungsgang:
“Seit langer Zeit hat man dies herrliche, weltferne gelegene, hinter Hügeln und Wäldern verborgene Kloster den Schülern des protestantisch-theologischen Seminars eingeräumt, damit Schönheit und Ruhe die empfänglichen jungen Gemüter umgebe. Zugleich sind dort die jungen Leute den zerstreuenden Einflüssen der Städte und des Familienlebens entzogen und bleiben vor dem schädigenden Anblick des tätigen Lebens bewahrt. Es wird dadurch ermöglicht, den Jünglingen jahrelang das Studium der hebräischen und griechischen Sprache samt Nebenfächern allen Ernstes als Lebensziel erscheinen zu lassen, den ganzen Durst der jungen Seelen reinen und idealen Studien und Genüssen zuzuwenden.”Hesse wusste, wovon er spricht. Er war selbst Schüler in Maulbronn. Und seine Kritik an der totalen Beanspruchung eines jungen Lebens durch die Schule ist heute noch aktuell.
Aus Anlass der Lektüre habe ich mit Sabine an einem schönen November-Samstag das nicht allzu weit entfernte, sehenswerte Kloster Maulbronn besucht, Schauplatz des Romans. Die “Eliteschule” gibt es immer noch. Sie heißt heute Evangelisches Seminar, und zur Aufnahme ist auch heute noch ein sogenanntes “Landexamen” erforderlich, ganz wie vor mehr als einhundert Jahren. Allerdings nicht mehr in den alten Sprachen:
Nach der Anreise und einer herzlichen Begrüßung am Sonntag, dauert die Aufnahmeprüfung, das sogenannte Landexamen, in der Regel von Montag bis Mittwoch. Um einen Überblick über die Leistungen in den Hauptfächern zu bekommen, werden Mathematik, Deutsch und Englisch schriftlich geprüft. In evangelischer Religion erfolgt eine mündliche Prüfung. Ein weiterer Bestandteil des Landexamens ist eine Präsentationsprüfung in einem der folgenden Fächer: Musik (mit Vorspiel), Latein, Französisch oder Geschichte. Am Landexamen teilnehmen und ins Seminar aufgenommen werden können alle evangelischen Schüler/innen der achten Klasse eines Gymnasiums. Quelle: http://www.seminar-maulbronn.de/Schwerpunkte der Schule sind Alte Sprachen, Religion und Musik. Allerdings sind nur noch 9. bis 12. Klassen in Maulbronn lokalisiert.
Weitere Infos hier: Klick
Ob die Lehrer (und heute auch: Lehrerinnen) immer noch so unduldsam sind wie Anfangs des 20. Jahrhunderts?
Die Erzählung "Unterm Rad gibt es auch als Video nachgestellt bei "Sommers Weltliteratur".
Im Anschluss an Hermann Hesse habe ich einen weiteren Coming-of-Age-Roman gelesen, der in einem Internat spielt. Diesmal keine Kritik am Leistungssystem der Schule, sondern ein Roman über das Erwachsenwerden, über Sexualität, Identität und Selbstfindungsprobleme. Robert Musils "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß".
Hier in der Kurzfassung bei Sommers Weltliteratur: Klick
Abschweifung
In Maulbronn soll auch die schwäbisch-badische Nationalspeise und sagenhaft gut schmeckenden Maultaschen, auch “Herrgottsbscheiserle” genannt, erfunden worden sein. Von Mönchen, die auch gerne in der Fastenzeit auf Fleisch nicht verzichten wollten. Fast zu schön, um wahr zu sein.
Samstag, 9. November 2019
Lernen bis zum Umfallen #1 Jean-Philippe Blondel - Ein Winter in Paris
Der Erzähler Victor, anfangs nur „der Schriftsteller“ genannt, ist auch Protagonist des Buches. Erzählt wird aus der Retrospektive, dreißig Jahre nach den schrecklichen Ereignissen.
Victor gehört 1984 zu den zwölf bis dreizehn Prozent besten Schülern seines Abiturjahrgangs in Frankreich und hat sich damit für eine Vorbereitungsklasse (Classe préparatoire) an einer Eliteschule in Paris qualifiziert. Ihm eröffnet sich die Möglichkeit an einer Elitehochschule zu studieren, wenn er das erste Jahr erfolgreich übersteht und nach dem zweiten Jahr den sogenannten Concours, eine Zulassungsprüfung in mehreren geisteswissenschaftlichen Disziplinen, besteht*.
Die Zeit am Lycée D ist geprägt von brutalem Leistungsdruck, Anpassungszwang und Erniedrigung durch die Lehrkräfte, in deren Folge sich ein Mitschüler, wie Victor aus der Provinz kommend, das Leben nimmt.
Über einen seiner Lehrer. Monsieur Clauzet schreibt Victor:
„Clauzet war eines der schlimmsten Exemplare von Lehrern, die ich jemals getroffen hatte. Arrogant bis zum Gehtnichtmehr, [...] Überzeugt davon, dass er die neue Weltelite unterrichtete, die nichtsdestotrotz wie x-beliebige Studenten einer Vorbereitungsklasse behandelt werden mussten, sogar eher noch wie Gymnasiasten: mit demonstrativer Herablassung und gelegentlich maximal einer Silbe der Anerkennung oder der Ermutigung, quasi wie Brotkrumen, die man Tauben hinwirft. Er war berühmt-berüchtigt für seine verletzenden Kommentare und originellen verbalen Klatschen, die seine Opfer kreuzigten. Gegenüber Gleichaltrigen – Leuten Anfang, Mitte vierzig – wäre das vielleicht amüsant gewesen. Aber er hatte es mit jungen, oft sensiblen Schülern zu tun. Jungen Menschen ihren Bildungsmangel vorzuwerfen ist nichts anderes als eine extreme Form von Selbstverachtung.“ (S.34f)
Dass Clauzet auch ein Frauenfeind war und Schülerinnen auf besonders verachtenswerte Weise demütigte, wird jetzt niemand überraschen.
Das System Clauzet ist jedoch nicht das System eines kranken Einzelgängers, sondern spiegelt den Geist der Eliteerziehung wider:
„Clauzet wurde von allen gehasst, und auch viele seiner Kollegen konnten seinem Humor verständlicherweise nichts abgewinnen – doch mir fiel auf, dass keiner der anderen Lehrer seine Methoden direkt oder indirekt in Frage gestellt hätte und dass auch keiner versuchte, den Schmerz zu lindern, wenn manche Schüler kreidebleich und am Boden zerstört aus den Französischstunden kamen. Im Grunde ihres Herzens glaubten auch sie an die natürliche Selektion und waren froh, dass ihnen jemand die Drecksarbeit abnahm und sie sich nicht selbst die Hände schmutzig machen mussten.“ (S.37)Alle Lehrer waren durch dieses System der Unterwerfung gegangen, und so erscheint die brutale Erziehung nicht zuletzt als Rache der Alten für die Demütigungen in ihrer Jugend.
Für Victor heißt die Konsequenz: „Jeden Morgen, wenn ich Clauzet grüßte, grinste ich innerlich und sagte mir, dass er mein abschreckendes Beispiel war. Das, was ich nicht werden wollte.“
Und tatsächlich wurde Victor später Lehrer und Schriftsteller, obwohl er die Zwischenprüfung gerade so noch besteht, aber die eigentliche Zulassungsprüfung nach zwei Jahren ad absurdum führt, indem er als letzte schriftliche Aufgabe statt eines Essays eine Art Roman abgibt und deshalb nicht zur Elitehochschule zugelassen wird.
Aber das ist nicht nur eine Erzählung über Leistungsdruck und elitären Dünkel im französischen System der Elitenbildung und ein Französisches Coming-of-age, sondern, wie Blondel in einem Interview mit der deutschen Lektorin betont:
„Ja, ganz nebenbei ist Ein Winter in Paris auch ein Roman über soziale Unterschiede, der die Wege nachzeichnet, die zum Beispiel auch Annie Ernaux oder Didier Eribon beschreiten. Der Roman zeigt, wie man nicht nur durch einen Ortswechsel, durch das Umfeld, sondern auch, weil man neue Kompetenzen und Kenntnisse erwirbt, in unsichere Gefilde gerät, weil einem bewusst wird, dass man sich von seiner Basis, seinen Wurzeln entfernt und dass der Weg ab einem bestimmten Punkt endgültig ist. Man kann nicht mehr zurück.Und das ist natürlich auch ein Roman über Paris und die Provinz und die seltsame Beziehung, die wir, die wir aus der Provinz kommen, mit der Hauptstadt unterhalten – bestehend aus Bewunderung, Eifersucht, Neid, aber auch Zurückweisung: Wir lieben es, ein paar Tage in Paris zu verbringen, aber wir wollen nicht für alles Geld der Welt hier leben.“Quelle: https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/ein-winter-in-paris/978-3-552-06377-8/#fivequestionsDas ist ein starkes Buch, mit einer fundamentalen Kritik an den elitären Classes préparatoires und seinen sadistischen Lehrern, die keine Rücksicht auf die jugendliche Psyche nehmen. Und der Autor schreibt offensichtlich aus eigener Erfahrung.
Ein Winter in Paris erinnerte mich stark an Hesses Unterm Rad, in dem Hermann Hesse seine bedrückenden Erfahrungen am württembergischen Landesseminar literarisch verarbeitete. Obwohl zwischen beiden Geschichten nahezu einhundert Jahre liegen, gibt es doch verblüffende Parallelen. Also habe ich diesen Roman wieder gelesen. Das Ergebnis finden Sie hier: Klick
*Zum System der (vor-) universitären französischen Elitebildung siehe Wikipedia
Verweise und Besprechungen
Leseprobe
https://www.vorablesen.de/buecher/ein-winter-in-paris
Über den Autor
https://de.wikipedia.org/wiki/Jean-Philippe_Blondel
5 Fragen an … Jean-Philippe Blondel
https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/ein-winter-in-paris/978-3-552-06377-8/#fivequestions
Jean-Philippe Blondel - Ein Winter in Paris. Von Jörg Aufenanger
https://www1.wdr.de/kultur/buecher/ein-winter-in-paris-104.html
Perfekter Text über einen gesellschaftlichen Aufsteiger. Von buchdoktor Avatar
https://www.vorablesen.de/buecher/ein-winter-in-paris/rezensionen/perfekter-text-ueber-einen-gesellschafltichen-aufsteiger
SWR2 Lesenswert: Jean-Philippe Blondel, Ein Winter in Paris
https://www.swr.de/swr2/literatur/Jean-Philippe-Blondel-Ein-Winter-in-Paris,aexavarticle-swr-55884.html (MP3)
Freitag, 8. November 2019
Nicolas Mathieu: Wie später ihre Kinder - Vier Sommer in 6 Jahren
1992 - 1994 - 14.Juli 1996 - 1998
„Das heutige Frankreich ist geteilt und zerrissen. Auf der einen Seite das Frankreich der Metropolen, auf der anderen Seite das Frankreich, das wir 'Peripherie' nennen. Diesem Frankreich der Peripherie fehlt oft die grundlegende Infrastruktur, öffentlicher Nahverkehr, Krippen, Kulturveranstaltungen.“
Emmanuel Macron in seinem Buch "Revolution"; 2017
Von diesem Frankreich der Peripherie handelt der Roman von Nicolas Mathieu, der 2018 mit dem Prix Concourt ausgezeichnet wurde. Eine Coming of Age-Geschichte aus dem prekären Milieu Frankreichs, lokalisiert in dem fiktiven, ehemaligen Industriestandort Heillange in Lothringen. Geschrieben mit sehr viel Sympathie für das langweilige Leben der Jugendlichen, „die keine Träume mehr hatten" (S.52) und auch keine Stimme, könnte man ergänzen. Er erzählt über einen Zeitraum von sechs Jahren die Geschichte von Anthony, Steph, Clem, Hacin und Coralie und deren Eltern und Geschwistern. Er berichtet von ihren Problemen, Träumen und von ihren Ängsten vor der Gegenwart und der Zukunft. Und er liefert, wenn man so will, auch ein Beitrag zum Verständnis dessen, was die Bewegung der Gelbwesten antreibt, denn
„Die Krise war allerdings nicht mehr zeitlich beschränkt. Sie hatte einen Platz in der Ordnung der Dinge eingenommen. Sie war ein Schicksal. Ihr Schicksal.“ (S.436)Deshalb kann man den Roman durchaus in der naturalistischen Tradition eines Emile Zola sehen, wie Virginie Despentes irgendwo bemerkte.
Nicolas Mathieu überzeugte mich nicht nur durch die genaue Milieuschilderung, sondern auch durch seine Sprache, die an vielen Stellen eine, wie ich finde, starke poetische Kraft hat:
„Eine Weile spürte er noch ihre Blicke im Rücken und bog in die Rue Clément-Hader, ohne aufs Stoppschild zu achten. Die Straße war zu dieser Tageszeit wie ausgestorben, sie fiel steil zur Innenstadt ab. Am Horizont leuchtete der Himmel in völlig übertriebenen Farben. Wie berauscht ließ er das Lenkrad los und breitete die Arme aus. Sein Shirt flatterte im Fahrtwind. Für einen Augenblick schloss er die Augen, der Wind pfiff ihm in den Ohren. Und so fuhr er dieser ausgestorbenen, seltsam wackligen Stadt entgegen, die sich den Hang hinunter bis unter die Autobahn erstreckte, mit einem Schaudern, zum Verrecken jung.“ (S.31)Ein Roman, den man auch jungen Lesern sehr empfehlen kann.
Verweise:
TAZ:
Die Loser von Lothringen. Von Fokke Joel
Rezensionsübersicht beim Perlentaucher:
Nicolas Mathieu, Wie später ihre Kinder
DLF:
Die Hölle der Gleichförmigkeit. Von Dirk Fuhrig
„Als wären sie nie gewesen“ Neue Literatur aus den Randgebieten Frankreichs. Von Sigrid Brinkmann (PDF) Klick
Über den Autor bei fr.wikipedia.org: Klick
Donnerstag, 7. November 2019
Jean-Paul Dubois - Ein französisches Leben
“Ich heiße Paul Blick, bin vierundfünfzig Jahre alt [...]. Ich schlucke regelmäßig Disopyramid, Propranolol und habe, wie alle anderen auch, zu rauchen aufgehört. Ich lebe allein, esse allein und werde allein alt, auch wenn ich versuche, den Kontakt zu meinen beiden Kindern und meinem Enkelsohn aufrechtzuerhalten.” (S.12)
Paul Blick, der Protagonist, wird 1948 geboren und wächst in einem bürgerlichen Haushalt auf. Claire, die Mutter, ist Korrektorin, der Vater Victoire führt eine gut gehende Autowerkstatt mit Verkauf. Alles könnte perfekt sein, aber die Familie leidet unter dem frühen Tod des ältesten Sohnes Vincent, der 1958, am Tag der Volksabstimmung über die Verfassung der Fünften Republik, an einer Bauchfellentzündung verstarb.
“Seit Vincents Tod konnte bei uns zu Hause von einem richtigen Leben nicht mehr die Rede sein, und zwei Monate im Jahr, wenn meine Großmutter kam, verwandelte es sich in eine Hölle.” (S.19), denn seine strenggläubige katholische Großmutter väterlicherseits, “eine Frau aus einer anderen Zeit, war in meinen Augen der Archetyp der Hässlichkeit, Niedertracht, Verbitterung und Perfidie.”(S.15)
Paul führt uns durch die französische Nachkriegszeit, von Anfang 1950 bis zum Beginn der 2000er Jahre und spart dabei nicht mit Kritik an der jeweiligen Präsidentschaft und den Regierungen, die sein Leben begleiten, aber nicht wesentlich prägen. Politik ist Bestandteil des familiären und gesellschaftlichen Lebens. Dabei geht es durchaus robust zu, denn man hält mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg. So erzkatholisch und reaktionär bis faschistoid die Großmutter ist, so links antiautoritär ist eine Tante, die im Konkubinat mit einem Sportjournalisten lebt, der am weihnachtlichen Tisch 1962 die Unabhängigkeit Algeriens verteidigt gegenüber Hubert, ein Cousin, der von de Gaulle als “wahrem Hurensohn” spricht, der die Franzosen in Algerien verraten hat.
“So also war meine Familie damals: freudlos, überaltert, reaktionär und unendlich traurig. Mit einem Wort französisch. Sie glich diesem Land, das sich glücklich schätzte, noch am Leben zu sein, nachdem es Scham und Armut hinter sich gebracht hatte. Ein Land, das heute reich genug ist, seine Bauern gering zu schätzen, sie zu Fabrikarbeitern zu machen und ihnen absurde Städte zu errichten von funktionaler Hässlichkeit.” (S.30)
Paul hat für die Präsidenten, die sein Leben begleiten nichts als Verachtung übrig:
Zu de Gaulle: “Rasch begann ich diesen Mann zu hassen. Sein süffisantes Gehabe, sein Käppi, seine Leuchtturmwärteruniform, sein ganzes hochmütiges Äußeres störten mich...(S.14)
Zu Valerie Giscard D’Estaing: “ein kleiner Wicht, ein erbärmliches Würstchen”, der am Tage der letzten Hinrichtung eines Delinquenten in Frankreich, sich verkroch und nicht erreichbar war.“ (S.158f)
Zu Mitterand: “Die Mitterand-Ära, im Rausch der Hoffnung und Versprechen, mit einer gewissen Majestät begonnen, endete in einer Art politischem und moralischem Zerfall.” In einer “monarchischen Republik, die die öffentlichen und moralischen Angelegenheiten auf ein vorsintflutliches Niveau zurückstufte,...” (S.277)
Aber Paul ist kein besserwisserischer Spießer, sondern durchaus selbstkritisch:
“Zu gegebener Stunde hatte ich, ohne es zu merken, sämtliche Etappen des Lebens eines Kleinbürgers durchlaufen. Für die Diplome Student, in den Pausenzeichen Anarchist, einen kurzen Schauder lang Libertin, dann schnell durch eine gute Heirat wieder angepasst und zwei handfeste Kinder am Hals, war ich schließlich beträchtlich reich geworden. Alles in allem war ich ein guter Schüler. Das System hatte mich nicht abgerichtet und gegeißelt, sondern ... verdaut.“ (S.218)
Pauls Glück und sein Vermögen sind nicht von Dauer und er muss lernen. mit Schicksalsschlägen zu leben. Wie sein Land?
Frankreich war mir schon aus geographischen Gründen immer sehr nahe. Jean-Paul Dubois hat mir das Land und seine Leute noch näher gebracht, denn die Verknüpfung von Biographie, Gesellschaftsanalyse und Zeitgeschichte ist ihm überzeugend gelungen. Kein Balzac, kein Zola, aber in deren Tradition fest verankert.
Jean-Paul Dubois erhielt 2014 für diesen Roman den “Prix Femina” und den “Prix roman FNAC”. 2019 erhielt er den “Prix Concourt” für sein Buch "Tous les hommes n'habitent pas le monde de la même façon".
"Une vie française" erschien 2005 auf Deutsch bei Ullstein und 2007 in unveränderter Übersetzung bei List. Mal sehen wie lange es dauert, bis es seinen neuen Roman auch auf Deutsch zu lesen geben wird.
Mittwoch, 6. November 2019
Wolfgang Büscher: Hartland. Zu Fuß durch Amerika
“Das musste die größtmögliche Freiheit sein: nicht zu merken, daß sie um einen ist, wie die Luft zum Atmen.” (S.137)
Büscher durchquert die Vereinigten Staaten in drei Monaten von Nord nach Süd, von North Portal/North Dakota einem öden Grenzübergang, wo er nicht gerade freundlich empfangen wird, bis Brownsville/Texas. Fast immer zu Fuß, manchmal aber auch mit dem Auto auf der Route 77. Und er erlebt die Menschen im tiefsten Inneren der USA.
In den Plains hörte er drei Sätze immer wieder:
“Ich will keine Regierung, die mir sagt, wie ich leben, wirtschaften, vorsorgen soll. Ich will ein Leben auf eigene Faust, wie es meine Vorväter suchten, als sie in dieses Land kamen. Und ich will nicht für die sorgen, die nicht für sich selbst sorgen.” (S.151)
Ein Friseur in Manhattan/Kansas:
“Wir leben in Angst, wir, die arbeitende Klasse. Solche wie ich mit einem kleinen Geschäft. Wir haben etwas Geld beiseite gelegt fürs Alter. Jetzt gibt Washington mehr und mehr Geld für die Wohlfahrt aus. Geld, das sie uns nehmen, Geld, das uns erhalten sollte im Alter. Wir sind keine Klassengesellschaft, jeder ist willkommen, ob Spanier, ob Mexikaner, nur arbeiten muß er. Kommt und arbeitet! Capitalism is good!” (S.192)
In der Nähe von Lincoln/Nebraska, kurz bevor auf die Route 77 trifft, findet der müde Wanderer Mitleid bei Gene, einem Bauarbeiter, der ihn mit zu seiner Familie nimmt. Sie leben kaum anders als 150 Jahre zuvor die ersten Siedler gelebt haben, nur jetzt mit Pickup vor dem Haus und TV im Wohnzimmer. Aber noch immer versammelt sich die Familie vor dem Feuer und trotzte der Kälte:
"Diese Leute sind arm, bemitleidenswert arm. Wer sagte das, wer redete so? [...] In gegenwartsdeutschen Augen bin auch ich als Kind arm gewesen, bemitleidenswert arm, aber mir ist das damals nicht so vorgekommen. Arm war, wer hungerte und fror und sich nicht helfen konnte. Wir hungerten und froren nicht und konnten uns helfen. [...] - wir hielten uns doch nicht für arm. Und waren es auch darum nicht.” (S.156)
Über Kansas schreibt er:
"Viel leere Orte hatte ich gesehen. Wichita war leerer als alle”.
Er besucht den <<Lord's Dinner>>der Diözesanskathedrale Zur Unbefleckten Empfängnis Mariens mit Freitischen für Arme und notiert:
"Das war das Erstaunlichste - jedem Dritten sah man es nicht an, daß er den ganzen Tag darauf wartete, hier eine warme Mahlzeit umsonst zu erhalten. Alte und Junge und Familien mit Kindern, die gar nicht zu wissen schienen, wohin sie gingen, so unbefangen kamen sie an der Hand ihrer Eltern daher." (S.217)
In Waco/Texas trifft er auf Charles, den heutigen Chef der Davidianer-Sekte, die sich 1993 einen mehrere Woche langen Kampf mit der Polizei geleistet hatte und bei dem lediglich neun Bewohner ein ausgebrochenes Feuer überlebten. Büscher resümiert:
"Schon wahr, Amerika war, wenn nicht das Land der Freien, so doch derer, die frei sein wollten, sie alle brachen aus unfreieren Ländern hierhin auf, bis heute. Aber es brachen auch die nach Amerika auf, die in älteren, in Lebensdingen gelasseneren, in Glaubensdingen gefestigteren Ländern niemand vermißte - all die verrückten Sektierer. Auch ihnen bot Amerika einen Platz in seinen Prärien, seinen Wüsten, seinen Städten, auch mit ihnen hatte es sich vollgesogen." (S.268)
Büscher zeigt ein ungeschminktes Amerika, weitab von den städtischen Zentren im Westen und Osten des Kontinents. Ein Amerika von unten, verstörend fremd für uns Mitteleuropäer, die wir mehr an Sozialstaat als am Jüngsten Gericht orientiert sind. Hätte man das Buch aus dem Jahr 2011 (!!) früher gelesen, wäre die Überraschung und der Schrecken über den Wahlerfolg Donald Trumps wohl nicht so groß gewesen.
Und was bedeutet das für die kommende Wahl zum Präsidenten der USA? Ich fürchte, nichts Gutes.
Rezensionsübersicht beim 'Perlentaucher': Klick
Weiterführend:
Tom Noga: Wie Amerikas ärmste Gemeinde ums Überleben kämpft
American Hollow: Klick
Rückkehr nach Wyoming - Wie ich meine frühere Gastfamilie in Trump-Country besuche: Klick
Montag, 4. November 2019
Sonntag, 3. November 2019
Michel Houellebecq: Serotonin (einschläfernd)
So weit, so fad.
Immerhin finde ich eine berührende Szene:
"Ich fuhr am nächsten Tag nach dem Frühstück ab, im Schein einer strahlenden sonntäglichen Sonne, die einen Gegensatz zu meiner wachsenden Traurigkeit bildete. Wenn ich es mir heute wieder ins Gedächtnis rufe, wundert es mich,dass ich so traurig war, als ich langsam über die verlassenen Landstraßen entlang des Ärmelkanals fuhr. Wir wünschen uns, dass es Vorahnungen oder Zeichen gäbe, aber im Allgemeinen gibt es keine, und nichts ließ mich an jenem sonnigen und toten Nachmittag ahnen, dass ich Camille am nächsten Morgen wiedertreffen sollte und dass an diesem Montagmorgen die schönsten Jahre meines Lebens anbrechen würden." (S.146f)Aber sonst eine vollständige Enttäuschung: Ich habe selten so einen schlechten Roman gelesen: banal, vulgär und langweilig. Ich schließe mich dem Urteil von Jürgen Ritte/ Deutschlandfunk an, für den die Provokation nur noch Pose und schlechtes Kabarett ist und nach den ersten sechzig Seiten die Langeweile beginne. Kein Vergleich mit "Die Unterwerfung", das mir sehr viel besser gefallen hat: Klick
(Ab damit zu Momox)
Samstag, 2. November 2019
Freitag, 1. November 2019
Dienstag, 1. Oktober 2019
Montag, 2. September 2019
Sonntag, 13. Januar 2019
Montag, 7. Januar 2019
Samstag, 5. Januar 2019
Donnerstag, 3. Januar 2019
Dienstag, 1. Januar 2019
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