Detailliert werden vom Autor die letzten Tage des Dritten Reiches behandelt: Vom 30. April 1945 bis zum 8. Mai, d.h. vom letzten Lebenstag Adolf Hitlers bis zum Tag der endgültigen Kapitulation der Wehrmacht. Tag für Tag wird von den unterschiedlichen Schauplätzen berichtet. Aus militärischen Befehlszentren, Berliner Wohnungen und Kellern, aus Ruinen und aus Villen. Aber auch von Todesmärschen erschöpfter KZ-Häftlinge ins noch nicht besetzte Süddeutschland können wir lesen. Verknüpft werden die Berichte mit biographischen Daten und historischen Bezügen, allerdings nur kompiliert und aus Sekundärquellen. Das erinnert an Kershaws umfassende Studie “Das Ende. Kampf bis in den Untergang - NS-Deutschland 1944/45”, der aber Primärquellen benutzt und damit analytischer ist.
Damit bietet das Buch eigentlich nichts Neues, aber das Bekannte wird anschaulich und umfassend dargestellt, mit Betonung des Alltags, aber auch der politischen Umstände, der Ränke und Ranküne des Herrschaftspersonals, und immer wieder mit Bezügen zu den Jahren der NS-Herrschaft zuvor. Man hat manchmal den Eindruck, dass das aktuelle Datum lediglich Aufhänger ist für ausführliche Erläuterungen bis hin zu Abschweifungen zur Geschichte des Dritten Reiches. Das ist sicher sinnvoll und nützlich für einen uninformierten Leser, andere mag das manchmal nerven.
Dennoch ist mein Urteil insgesamt positiv, denn vieles wird in Erinnerung gerufen, dass nicht so bekannt war oder vielleicht in Vergessenheit geriet. So zum Beispiel die grausamen Behandlung geflüchteter KZ-Häftlinge, wenige Tage vor dem totalen Ende.
Nicht selten beteiligten sich gewöhnliche Deutsche am Morden. Ein besonders erschütternder Fall ereignete sich Anfang April 1945 in Celle. Hier war es Hunderten von Häftlingen aus einem Nebenlager von Neuengamme gelungen, während eines Bombenangriffs auf den Bahnhof der Stadt aus dem Zug zu flüchten und sich in einem nahegelegenen Wald zu verstecken. In der folgenden Nacht machten sich die Aufseher des Begleit kommandos, SA-Männer, Soldaten aus einer Kaserne, örtliche Polizisten,. Volkssturmmänner und auch Gruppen von Zivilisten, unter ihnen vier zehn- bis sechzehnjährige Hitlerjungen, auf Jagd nach den Entflohenen. Mindestens 170 Häftlinge wurden getötet. (S.181f)
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Den Schluss, den der Autor aus diesem und ähnlichen Ereignissen zieht, ist für mich zwingend:
Die Massaker von Celle und Gardelegen zeigen: Der Mord an den KZ-Häftlingen in der Phase der Todesmärsche war nicht «von oben» angeordnet und zentral gesteuert, vielmehr entwickelte er sich in einem unkoordinierten, dynamischen Prozess «von unten», wobei sich SS-Aufseher, örtliche Parteifunktionäre, Angehörige von Polizei, Volkssturm und Hitlerjugend, aber auch ganz gewöhnliche Zivilisten zu kriminellen Gemeinschaften zusammenfanden - ein schlagender Beleg dafür, in welchem Ausmaß der Virus entfesselter Gewalt von Teilen der deutschen Gesellschaft Besitz ergriffen hatte. (S.182)
Ich stimme dem Autor auch voll zu, wenn er in seinem Resümee schreibt:
Man muss sich das Ausmaß der Verheerungen, der materiellen wie moralischen, vor Augen halten, um zu begreifen, wie unwahrscheinlich dies am 8. Mai 1945 erscheinen musste und welche Errungenschaft es bedeutet, heute in einem stabilen, freiheitlichen und friedlichen Land leben zu können. Vielleicht ist es an der Zeit, daran zu erinnern.
Erinnern. Ja, das ist die bleibende Aufgabe.
Volker Ullrich: Acht Tage im Mai. Die letzte Woche des Dritten Reiches
C.H. Beck Verlag, München 2020, Gebunden, 317 Seiten.
Nachdruck der Paperbackausgabe als Sonderausgabe der Landeszentrale für politische Bildung Hessen, 2021
Rezensionen
Ian Kershaw
Das Ende. Kampf bis in den Untergang - NS-Deutschland 1944/45
Deutsche Verlags-Anstalt (DVA), München 2011, 702 Seiten,