Michi (“Mick”), der “reine Tor” und eher ein Typ, der Dinge gemächlich angeht, lässt sich nach der Übersiedlung von Ost nach West durch das Berlin der 90er Jahre treiben, aber er ist kein wirklich Getriebener und schon gar kein Antreiber. Sein Halbbruder Gabriel ist das genaue Gegenteil. Er geht zielsicher seinen Weg, wird Architekt, verlässt Deutschland und macht in London Karriere. Arbeit ist ihm Lebensinhalt und Ehrgeiz sein Leitmotiv. Ihm scheint alles zu gelingen, bis er dann eines Tages Opfer seiner unterdrückten Wut wird. Mick dagegen scheitert in Berlin, geht nach Thailand, kommt aber wieder zurück nach Berlin als in sich ruhender Yogalehrer und Lifecoach.
In beiden Fällen gelingt es Jackie Schwarz den Geist von Zeit und Ort lebendig werden zu lassen und ihren Figuren anschauliche Gestalt zu geben.
Gabriel, der durch sein attraktives Äußeres und durch seine erfolgreiche (und finanziell lukrative) Arbeit auf einer Welle sozialer Anerkennung schwimmen kann, ist sich seiner privilegierten Mittelschichtsexistenz durchaus bewußt. Bei einem stilvollen, aber lockeren Abendessen mit Freunden im Ferienhaus in der Provence, nachdem er genug Pastis, Wein und Armanac intus hat, zerstört er die Selbstbeweihräucherung der liberalen Abendgesellschaft. Sein Sohn hat nichts vom Ehrgeiz seines Vaters, und so stellt er der Runde die selbstkritisch gemeinte Frage:
“Bei allem was wir tun und anbieten, was wir sind oder meinen zu sein, ist da die Möglichkeit eines mittelmäßigen Kindes überhaupt noch vorhanden?”Ein Antwort erhält er nicht, genauso gut hätte er die Frage auf Suhali stellen können, so unverständlich und weit außerhalb des Vorstellungsvermögens erscheint sie den Anwesenden. Der Schlag ins bürgerliche Selbstverständnis geht ins Leere. Aber die Frage gestellt zu haben ist ein Beweis dafür, dass der ehrgeizige und erfolgreiche Gabriel nicht blind durch die Welt läuft.
Sehr spät, nach fast 50 Jahren, will Idris, der Vater der beiden so unterschiedlichen Halbbrüder, seine deutschen Ableger wiedersehen und arrangiert ein Treffen in Paris bei seiner legitimen Tochter. Nicht alle werden seinem Wunsch folgen.
Bis zur Mitte des Romans war ich der Überzeugung, Jackie Thomae sei ein männlicher Autor und die Beschreibung der Gefühlslage der Protagonisten hatte keine Zweifel daran gelassen. Nur ein Mann könne das Innenleben von Typen wie Mick und Gabriel so plastisch darstellen, dachte ich. Weit gefehlt! Beim Recherchieren musste ich feststellen, dass ich den Roman einer Autorin las. Der Name “Jackie” hatte mich in die Irre geführt, denn ich verknüpfte damit den Namen des bekannten Schauspielers Jaeckie Schwarz. Um so mehr mein Erstaunen über das gelungene Werk der Autorin.
Jackie Thomae entzieht sich in ihrem Roman so sehr allen Erwartungen an eine Geschichte zweier deutscher Mischlinge unserer Zeit, dass schon dies den Roman lesenswert macht.
Jackie Schwarz: Brüder. Verlag Hanser Berlin 2019
Verweise:
Interview mit Jackie Thomae„Ich habe Erfahrung mit lästigen Fragen“
Die Schriftstellerin Jackie Thomae über ihre Kindheit in der DDR, rassistische Anfeindungen und die wilden Berliner 90er. GERRIT BARTELS
Rezensionsübersicht beim Perlentaucher:
https://www.perlentaucher.de/buch/jackie-thomae/brueder.html
Deutschlandfunk Kultur
LESART / ARCHIV | Beitrag vom 26.08.2019
Schriftstellerin Jackie Thomae. Bestimmt die Hautfarbe alles?
Von Mechthild Lanfermann
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