Donnerstag, 21. Dezember 2017

La France, Französisch and Me #3 - Les classes populaires

Französisch ist eine einfache Sprache: Unterschiedliche Phänomene kann mit einem einzigen Begriff erklären:


Übersetzungen für "classes populaires":
Arbeitende Klassen, Arbeiterklasse, Unterschicht, untere Klassen, untere Schichten, einfache Bevölkerungsschichten, niedere Schichten, einfaches Volk, einfache Bürger, einfache Volksschichten, Volksbewegung.

Man könnte meinen, es sei ein Problem der Übersetzer. Nein, es ist eines der Autoren: ein einziger Begriff für unterschiedliche soziale Gruppen.
Ich habe es immer vermutet:
"Wer aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt, möchte nicht selten den Autor des Originals befragen: Was soll dieser Satz eigentlich bedeuten? Was hatten Sie im Sinn? Häufig weiß der Autor die Frage nicht zu beantworten, und zwar ganz einfach deshalb, weil das Französische ihn nie dazu gezwungen hat, sie sich zu stellen."
Anne Weber: Sie küssen und sie übersetzen sich. In: FAZ vom 7.Oktober 2017, Beilage Seite L2.


Didier Eribon: Die Fortsetzung #1


Didier Eribon hat seinem Megaseller "Rückkehr nach Reims" (hier mein Kommentar dazu) schon 2013 ein Sequel  nachgeschoben, von dem sich der Suhrkamp Verlag ebenfalls viel Umsatz erhoffte (was aber sicher nicht eintraf):
Didier Eribon: Gesellschaft als Urteil.

Es ist ein Buch voller Larmoyanz, Selbstanklage und mit einer deftigen Portion Größenwahn, kurz ein schamloses Buch, dessen Lektüre mir einige Qualen bereitet.

Nur kurz zwei Beispiele für seine nach Generalabsolution heischende Selbstanklage:
Ich konnte "mich der 'symbolischen Gewalt' nicht entziehen, konnte [...] nicht verhindern, dass ich, wie so viele Beherrschte, zu einem Komplizen der beherrschenden Herrschaft wurde. Wir sind so sehr Produkte der Ordnung der sozialen welt, dass wir sie am Ende selbst reproduzieren: Noch wenn man sie anklagt oder auf einer anderen Ebene dafür kämpft, dass sie sich ändert, wie man es gerne hätte, bestätigt man ihre Legitimität und Funktion" (S.63)
"Auf einer noch tieferen Ebene der Analyse muss man allerdings auch feststellen, dass man all die sanften Zwänge und Unterwerfungen, all das, was zum Einstieg ins kulturelle und intellektuelle Milieu (wenn man beispielsweise beginnt, Artikel oder Bücher zu veröffentlichen) notwendig ist, nicht nur erleidet, sondern dass man sich ihm auch bereitwillig unterwirft. Man sucht nach den Zwängen, man verlangt nach ihnen." (S.118f)

Den treffenden Kommentar dazu hat schon vor über 100 Jahren Wilhelm Busch geschrieben:
Kritik des Herzens
Die Selbstkritik hat viel für sich.
Gesetzt den Fall, ich tadle mich,
So hab' ich erstens den Gewinn,
Daß ich so hübsch bescheiden bin;

Zum zweiten denken sich die Leut,
Der Mann ist lauter Redlichkeit;
Auch schnapp' ich drittens diesen Bissen
Vorweg den andern Kritiküssen;

Und viertens hoff' ich außerdem
Auf Widerspruch, der mir genehm.
So kommt es denn zuletzt heraus,
Daß ich ein ganz famoses Haus.

Demnächst mehr zu Eribon, versprochen!

Mittwoch, 20. Dezember 2017

Ach, Edith.

Von Roger Fry - http://www.artnet.de/artwork/424645113/159979/roger-fry-portrait-of-edith-sitwell.html, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4076482

Edith Sitwell darf man mit gutem Recht als geniales Lästermaul bezeichnen - und sie hätte das gewiss als Kompliment aufgefasst. Zum Beweis meiner Behauptung ein Zitat:
Meinen Eltern mißfiel ich, weil sie gern ein Kind wie das gehabt hätten, das 1788 einer Frau namens Mary Clark geboren worden war: "Die Ärzte fanden ihren Kopf von sonderbarem Aussehen.". Aber diese Merkwürdigkeit "kümmerte sie nicht weiter, denn das Kind verhielt sich in der üblichen Weise, und erst nachdem eingetretenen Tod unbestreitbar war, ...erwies sich, daß es nicht das geringste Anzeichen für das Vorhandensein von Großhirn, Kleinhirn oder Rückenmark gab." Das wäre für meine Eltern ein ideales Kind gewesen. Aber leider habe ich mich nie auf die übliche Weise verhalten, und es ließ sich nicht leugnen, daß ich schon in frühester Kindheit deutliche Anzeichen für das Vorhandensein von Großhirn, Kleinhirn und Rückenmark an den Tag legte. Ich war eine Enttäuschung. Meine achtzehnjährige Mutter hatte geglaubt, sie habe eine neue Puppe bekommen - eine, die auf ihre Aufforderung hin die Augen öffnete und schloß und "Papa" und "Mama" sagte. In dieser Hinsicht wie in jeder anderen erfüllte ich die in mich gesetzten Erwartungen nicht.

Und noch ein Meisterstück ihrer Spottlust:
Eines der schlimmsten dieser unmenschlichen Wesen war Diana Pilkington, angeblich eine Schönheit. Ihr Körper schien genau in zwei Teile geteilt zu sein, von denen der obere aus einem riesigen roten Schinken bestand, der ihr als Gesicht diente; seine untere Hälfte hingegen ähnelte einem jener beinlosen Spielzeuge, die hin und her schaukeln, wenn man sie leicht anstößt.Hinter der gewaltigen ausdruckslosen rosa Fassade war sie ein abgestumpftes Geschöpf,an dem plumpe, ungeformte Gesichtszüge einfach deshalb angebracht waren, weil sie einen Mund brauchte um zu essen, sowie eine Nase, um damit das Elend anderer herauszuschnüffeln.

Sie war keineswegs allein mit dieser Lust am britischen, d.h. exzentrischen Spott. Über den von ihr sehr geschätzten Lord Berners berichtet sie:
Einer seiner Bekannten hatte die unverschämte Gewohnheit, zu ihm zu sagen: "Ich habe mich für sie in die Bresche geworfen". Das wiederholte er einmal zu oft, und Lord Berners erwiderte: "Und ich mich für Sie. Jemand hat behauptet, sie seien es nicht wert, mit Schweinen zu leben, und ich habe gesagt, Sie sind es doch.

Herrliche Zeiten, kein Aufschrei.


Alle Zitate aus: Edith Sitwell, Mein exzentrisches Leben. Fischer Tb-Verlag, Frankfurt a.M., 1997. S.31f; S.53f; S.196

Mehr über Edith Sitwell hier: 
Wikipedia
The Telegraph: Edith Sitwell, Eccentric Genius 


Montag, 4. Dezember 2017

Annie Ernaux ‚Die Jahre‘ / Les années



Klappentext
Kindheit in der Nachkriegszeit, Algerienkrise, die Karriere an der Universität, das Schreiben, eine prekäre Ehe, die Mutterschaft, de Gaulle, das Jahr 1968, Krankheiten und Verluste, die so genannte Emanzipation der Frau, Frankreich unter Mitterrand, die Folgen der Globalisierung, die uneingelösten Verheißungen der Nullerjahre, das eigene Altern. Anhand von Fotografien, Erinnerungen und Aufzeichnungen, von Wörtern, Melodien und Gegenständen vergegenwärtigt Annie Ernaux die Jahre, die vergangen sind. Und dabei schreibt sie ihr Leben - unser Leben, das Leben - in eine völlig neuartige Erzählform ein, in eine kollektive, »unpersönliche Autobiographie«. 


Eine Wiederentdeckung


Die gegenwärtige Popularität von Annie Ernaux in Deutschland - im November 2017 Platz 1 auf der Bestenliste des SWR - ist ganz gewiss ein Resultat des ökonomischen Erfolges der Bücher von Didier Eribon und Eduard Louis, die  beide immer wieder Bezug auf Annie Ernaux nehmen.
Ihr Erfolg reiht sich damit in eine ganze Reihe „soziologischer„ Romane aus Frankreich ein. Neben den erwähnten Eribon und Louis könnte man noch Catherine Millet (Traumhafte Kindheit) und Virginie Despentes (Das Leben des Vernon Subutex) dazu zählen. 

Schon früher gab es Versuche, Ernaux dem deutschen Publikum vertraut zu machen: 
- La Place (deutsch: Das Bessere Leben, Dt. Erstausg.Frankfurt am Main : Fischer-Taschenbuch-Verl., Nov. 1988 und in: Moderne französische Prosa, Verlag Volk und Welt Berlin 1988);
- Les Femmes ( deutsch: Gesichter einer Frau, Goldmann Verlag 10. April 2007 und  Das Leben einer Frau Dt. Erstausg.Frankfurt am Main : Fischer-Taschenbuch-Verl. 1993).  

Selbst im Stoffplan der gymnasialen Oberstufe in Baden-Württemberg 2013 taucht A.E. mit ihrem Roman „La Place / …) als Wahllektüre auf. 

Bei Reclam gibt es dazu die passende Textausgabe mit Erläuterungen: 
Ernaux, Annie: Une femme (Gallimard, 1988 u. Reclam)  La place (Gallimard, 1984)


Trotz zweier weiterer in Deutschland veröffentlichter Bücher („Sich verlieren“, 2003  und „Eine vollkommene Leidenschaft“, 2004) war die Autorin nahezu in der Versenkung verschwunden, als sie im Sommer 2017 überraschend wieder auftauchte (s.o.).


Eine Auto-Soziobiographie 


In den älteren Büchern, „La Place - Das bessere Leben“ berichtet Annie Ernaux vom Leben ihres Vaters, in „ Les Femmes - Gesichter einer Frau“ steht das Leben ihrer Mutter im Zentrum. Beide Bücher sind noch stark autobiographisch ausgerichtet und schildern den sozialen Aufstieg der Familie aus ärmlichen Verhältnissen zu bescheidenem Wohlstand und die damit verbundenen Anstrengungen und  Verbiegungen, mit denen insbesondere das Mädchen und die junge Frau Annie konfrontiert wurde.
Biographie wird mit Zeitgeschichte verbunden und das Individuelle mit dem Kollektiven verknüpft. 

„Die Jahre“ weicht davon vollkommen ab, denn nun ist das Individuelle vollständig im Kollektiven aufgegangen. 
Annie Ernaux: „Es ging mir darum ein Leben zu entfalten, das Leben einer bestimmten Generation über 60 Jahre hinweg. Ich wollte auf keinen Fall eine autobiographische Form verwenden, im Stil von <<Ich bin 1940 geboren>>.“



Sie will in einem individuellen Gedächtnis das Gedächtnis des kollektiven Gedächtnisses finden und so die Geschichte mit Leben füllen", heißt es am Ende des Buches. (S.252)
Also bekommen wir eine „Anti-Autobiographie“, eine Kollektivbiographie" der Jahre 1940 bis 2010 zu lesen, die bei Lesern, und vor allem Leserinnen, meiner Generation viele Erinnerungen wecken wird, und die sind nicht immer angenehm. 

Dem ästhetischen Konzept entsprechend ist „der totale Roman“  in einer schmuck- und emotionslosen, distanziert nüchternen Sprache geschrieben. Obwohl immer wieder Familienfotos den Anstoß für Erinnerungen liefern, gibt es hier kein „ich“, sondern nur ein „wir“ und „man“. Persönliches wird nach Möglichkeit in den Hintergrund gedrängt.


Wie ich das Buch lese 


Es ist ein Bericht darüber, wer wir waren, was wir werden wollten und was wir geworden sind. (Obwohl ich Probleme habe, an dieser Stelle „wir“ zu schreiben, denn das „wir“ ist immer ein Konstrukt, das Zeitgenossen einschließt ohne deren Einverständnis einzuholen.)

Engere Familiengeschichte findet kaum statt. Die Rolle des Ehemannes (und später die des Geliebten, der Kinder, des Berufs) werden nur an wenigen Stellen schemenhaft angedeutet, so z.B. S.101: 
Also ist er der unsichtbare Fotograf, der jungenhafte, flatterhafte Student, der in nur vier Jahren Ehemann, Vater und Beamter in einer mittelgroßen Stadt in den Bergen geworden ist." 

Dafür finde ich eine Fülle von treffenden Beobachtungen und Reflektionen zur Nachkriegsgeneration, der Jahre des sozialen Aufstiegs und des steigenden Wohlstandes, zum Leben als Kind in den späten 40er und als Jugendliche in den 50er Jahren, mit verblüffenden Parallelen zum Leben in Deutschland, zu meiner eigenen Biographie, z.B. zum Verhältnis Jungen/Mädchen.


„Überall waren Jungen und Mädchen voneinander getrennt. Die Jungen, laute Wesen, die keine Tränen kannten, warfen ständig mit irgendetwas, einem Stein, einer Kastanie, einem Böller, einem harten Schneeball, sie fluchten und lasen Tarzan- und Bibi-Fricotin-Comics. Die Mädchen fürchteten sich vor ihnen und wurden ermahnt, es ihnen auf keinen Fall gleichzutun, man hielt sie zu ruhigeren Spielen an, Plumpsack, Hinkelkästchen und Ringlein, Ringlein, du musst wandern.“ (S.40)

Aber bei der Beobachtung von Alltagsszenen bleibt es nicht:


Die 70er Jahre


Anfangs der Siebzigerjahre saß man an lauen Sommerabenden in großer Runde um einen Bauerntisch herum, der beim Antiquitätenhändler stolze tausend Franc gekostet hatte. […] Die Gespräche drehten sich „um Farbstoffe und Hormone in der Nahrung, um Sexualwissenschaft und Ausdruckstanz, um Antigymnastik, Kinesiologie, humanistische Psychologie, Yoga, um sanfte Geburt, Homöopathie und Soja, um Selbstverwaltung und den Arbeitskampf in der Lip-Uhrenfabrik.“ (S.119)

Die Gesellschaft bekam einen neuen Namen, sie hieß jetzt 'Konsumgesellschaft'. Das war eine unumstößliche Tatsache, die man wohl oder übel hinnehmen musste." […] Die Werbung zeigte, wie man zu leben, sich zu verhalten und seine Wohnung einzurichten hatte, sie war die Kulturanimateurin der Nation.“ (S.121)
Man selbst ging der Werbung natürlich nicht auf den Leim, man analysierte ihre Verlockungen mit den Schülern und ließ sie einen Aufsatz zum Thema >>Macht Besitz glücklich<< schreiben, und wenn man bei Fnac eine Super-8-Kamera von Bell & Howell kaufte, war man überzeugt, dass man die modernen Errungenschaften zu einem intelligenten Zweck nutzte. Für uns und durch uns wurde der Konsum zu etwas Erhabenem. Der Konsum löste die Ideale von 1968 ab."(S.122)
In einem Pariser Vorort zu wohnen bedeutete: auf einem Territorium zu leben, dessen Geografie einem fremd blieb und dessen Straßen ein unentwirrbares Geflecht bildeten, weil man alle Wege mit dem Auto zurücklegte, sich den Verlockungen der Warenwelt nicht entziehen zu können, den ausufernden Gewerbegebieten und der langen Abfolge von Lagerhallen an den Ausfallstraßen, mit Firmenschildern, die Maßlosigkeit ausdrückten, Alles fürs Wohnzimmer, Welt des Teppichs, Lederzentrum, und mit einem Mal waren die Werbespots im Radio seltsam real, Ich kauf' meine Möbel nur bei Saint-Maclou. Es bedeutete, dass man in dem, was man sah, keine glückliche Ordnung fand." (S.132f)

Die 80er Jahre


„Die Tatsachen, die materielle und immaterielle Wirklichkeit, erreichte uns nur noch in Form von Zahlen und Prozentpunkten, die Arbeitslosenquote, der Absatz von Autos und Büchern, das Krebsrisiko, die durchschnittliche Lebenserwartung, die Umfrageergebnisse zu diesem oder jenem Thema. 55% der Franzosen sind der Meinung, dass zu viele Nordafrikaner im Land leben, 30% besitzen einen Videorekorder. Die Arbeitslosenzahl ist auf zwei Millionen gestiegen. Die Zahlen drückten nichts aus, nur Fatalismus und Sachzwang.“ (S.153)

Und in den 90er Jahren dann: 


Die soziale Ordnung löste sich auf. Die Sprache verlor ihren Realitätsbezug, sie wurde zu einem Mittel intellektueller Distinktion. Wettbewerb, Prekariat, Erwerbsfähigkeit, Flexibilität waren die neuen Kampfbegriffe. Man lebte in geschönten Diskursen. Man hörte ohnehin kaum zu, die Fernbedienung hatte die Aufmerksamkeitsspanne verkürzt, uns wurde schnell langweilig." (S.191)
"Es gab immer mehr und immer größere Verkaufsflächen. [...] Es waren Orte des harten Konsums, wo sich der Kaufakt in einer schmucklosen Umgebung vollzog, in einem sowjetisch anmutenden Klotz, der mit einer monströsen Anzahl von Produkten ein und derselben Sparte gefüllt war,..." (S.193)

Schließlich das neue Jahrtausend:


„Die Religion war zurück, aber es war nicht mehr unsere, nicht die, an die man nicht mehr glaubte, die man nicht weitergegeben hatte und die letztlich die einzige richtige war, oder, wenn man wollte, die beste. Der Rosenkranz, die Kirchenlieder und Fisch am Freitag gehörten ins Museum unserer Kindheit.“ (S.223)
„Die Orte, an denen sich die Waren präsentierten, wurden immer größer und schöner, immer bunter und sauberer, ein krasser Gegensatz zu den verwahrlosten Metrostationen, Postämtern und öffentlichen Schulen.“ (S.229)
„Für alle, auch für die illegalen Einwanderer, die in einem überfüllten Boot auf die spanische Küste zuhielten, hatte die Freiheit die Anmutung eines Einkaufszentrums oder eines Hypermarchés mit seinem erdrückenden Überangebot." (S.230)


Ein Resümee


Wie oben zu lesen war: Annie Ernaux betreibt keine Nabelschau, sie schreibt  keine Recherche du temps ...", vielmehr breitet sie den Erfahrungsschatz einer ganzen Generation aus, mit geschärftem Blick auf die sozialen Veränderungen von 1940 bis Anfang der 2000er Jahre. Sie verfällt jedoch nicht in ideologische Denkmuster, wie man das Eribon vorwerfen kann. Ernaux analysiert nicht, sie beobachtet, stellt Fragen an sich selbst als Repräsentantin einer Generation, deren Selbstlügen sie zerpflückt  - und das authentisch und deshalb überzeugend.

Leider verliert das Buch zum Ende hin an Durchschlagskraft. Die Jahre nach der Epochenwende 1989 werden zunehmend atemlos durchschritten, „das Feuer lässt nach“, die Bilanz wird buchhalterisch und damit langweiliger, weil vieles bekannt ist und nur noch referiert wird. Dennoch lohnt sich die Lektüre. Ich bin gespannt, wann es eine Fortsetzung gibt.


Und – beziehen sich Eribon und Louis zu Recht auf Annie Ernaux?


Eine Übereinstimmung mit Eribon und Louis sehe ich lediglich im soziologischen Ansatz und in der Scham" über die Herkunft aus der Unterschicht.
Die Einbettung der eigenen Geschichte in die kollektive Geschichte, das Bekenntnis zu den Lügen und Irrtümern der eigenen Generation unterscheidet sie jedoch fundamental von Eribon und Louis. Bei Ernaux gibt es keine Schuldigen, denen man die Verantwortung für die als Misere erlebte Biographie zuschieben kann. Wenn überhaupt, dann sind die Schuldigen „wir“.

Mehr dazu demnächst in diesem Blog!



Quellen Links:



Pressestimmen zum Roman auf der Suhrkampseite.
http://www.suhrkamp.de/buecher/die_jahre-annie_ernaux_22502.html

Annie Ernaux spricht über »Die Jahre«  Suhrkamp Verlag
https://youtu.be/Gga-t7C7BQo 

SWR Bestenliste November  Annie Ernaux: Die Jahre - Lesung aus dem Buch und Diskussion
https://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/lesenswert/swr-bestenliste-november-annie-ernaux-die-jahre/-/id=659892/did=20578204/nid=659892/14pn9qt/index.html

Französische Literatur - Ich und das Mittagessen
Von Meike Feßmann SZ 9. Oktober 2017
http://www.sueddeutsche.de/kultur/franzoesische-literatur-ich-und-das-mittagessen-1.3687874

Annie Ernaux: "Die Jahre". Erinnerungen ohne Ich-Erzähler
Von Peter Urban-Halle
http://www.deutschlandfunkkultur.de/annie-ernaux-die-jahre-erinnerungen-ohne-ich-erzaehler.950.de.html?dram:article_id=397818

Aus dem Radiofeature: Frankreichs Schriftsteller mit Soziologenbrille
Die französischen Schriftsteller Annie Ernaux, Édouard Louis, Didier Eribon 
WDR 3 Kulturfeature | 07.10.2017 | 53:58 Min.
http://www1.wdr.de/radio/wdr3/programm/sendungen/wdr3-kulturfeature/soziologen-frankreich-100.html