Freitag, 31. Mai 2024

Man hat es nicht leicht: GUTVERDIENER IN GELDNOT

 „10.000 Euro im Monat

reichen nicht. Was tun?“ 

Eigentlich geht es Familie Huber gut. Die Eltern haben gute Jobs, sie sind Ingenieure, er bei einem Mittelständler, sie bei der Stadt. Sie verdienen zusammen rund 10.000 Euro netto im Monat, seit 2018 wohnen sie in einem renovierten Reihenhaus in Niedersachsen, fahren zwei Autos, die beiden Kinder gehen aufs Gymnasium. Doch immer am Monatsende stellen sie fest, dass sie offenbar irgendetwas falsch gemacht haben. Denn trotz guter Gehälter bleibt fast nichts davon übrig, das Konto rutscht sogar leicht ins Minus. 

Das ist keine Satire, sondern ein Beitrag aus: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 26.Mai 2024, S.26.: Klick (Bezahlschranke)

Samstag, 18. Mai 2024

Die Grünen geben Rätsel auf

 Europawahlkampf 2024


Welche Ordnung ist gemeint? Die Ordnung im Küchenschrank? Die Ordnung auf dem Schreibtisch? 
Ah, beim genauen Hinsehen stelle ich fest: Es ist die Ordnung am Arbeitsplatz gemeint. 
Aber was hat es mit den Menschenrechten auf sich? Und wie zähle ich mein Machen?

Montag, 6. Mai 2024

Didier Eribon: Eine Arbeiterin - Leben, Alter und Sterben

Didier Eribon: Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024. 
ISBN 9783518431757. Gebunden, 272 Seiten.

Vorbemerkung: Ich habe mir das Buch nicht gekauft, sondern lediglich in einem Buchkaufhaus in Abschnitten gelesen. Ich wollte weder dem Verfasser noch dem Verlag gönnen, auch nur einen Cent dafür ausgegeben zu haben. Wenn Sie das Folgende lesen, werden Sie verstehen, warum.

Was Didier Eribon schon immer auszeichnete, war seine Larmoyanz gegenüber seiner Vergangenheit und der Mangel an aufrichtiger Anteilnahme, etwa am schweren Leben seiner Eltern, insbesondere dem seiner Mutter. 
Das wird auch in seinem letzten Buch “Die Arbeiterin” wieder deutlich. Diese Arbeiterin ist nicht irgendjemand, sie ist seine Mutter. Das muss betont werden, weil er aus der Mutter eine Kategorie konstruiert, zu der er keine ethische oder persönliche Beziehung hat. Die Mutter steht für alles, aber nicht für die konkrete Mutter des Sohnes Didier. Eine einfache Tatsache macht dies deutlich: In den sieben Wochen, die seine Mutter im Pflegeheim verbringen musste, hat der Sohn sie nur zweimal besucht. Es gab so viel zu tun in Paris und auf Reisen. Verantwortung des Sohnes für die demente und kranke Mutter? Fehlanzeige.
Eribon hat dann das Wunder vollbracht, aus einem zutiefst schäbigen Umgang mit der eigenen Mutter ein Buch zu machen, das von den Feuilletons gefeiert wird. Der soziale Aufstieg ist ihm wirklich gelungen, da stören die nächsten Verwandten nur noch, sind allenfalls Stoff für literarische Verarbeitung. Geradezu grotesk und zynisch wirkt auf mich dann sein „mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa“

Eribon:

Mittlerweile ist mir bewusst, dass ich zugleich dank meiner Mutter und in Abgrenzung zu ihr der Mensch geworden bin, der ich bin. In meinen Gedanken war das In-Abgrenzung-zu-ihr lange Zeit stärker als das Dank-ihr. Natürlich schäme ich mich seit Langem für all die Beispiele meines Egoismus und meiner Undankbarkeit. Mich schmerzt, wie viel Schmerz ihr mein Egoismus und meine Undankbarkeit zugefügt haben. Doch wie Albert Cohen in Das Buch meiner Mutter schreibt: »Etwas spät«, das schlechte Gewissen. 227

Es war seine Mutter, die täglich in schlecht bezahlten Jobs das Geld aufbringen musste, um ihm den Besuch des Gymnasiums zu ermöglichen. Dankbarkeit des Sohnes? Auch hier Fehlanzeige. Seine angebliche Scham ist nur Pose.
Ich kann gar nicht so viel fressen ...

Eribon hat ein Buch geschrieben, das moralisch bedenklich und soziologisch ein Leichtgewicht ist, trotz einer beeindruckenden Zahl von Verweisen auf andere Autoren und Geistesgrößen, die er gerne und ausführlich zitiert, um seine Überlegungen wissenschaftlich zu untermauern. Böswillig könnte man sagen, dass er auch mit 70 Jahren noch am klassischen Aufsteigersyndrom leidet: “Bin ich wirklich so brillant, wofür mich alle halten?" 
Nein, bist du nicht.

Rezensionen


Von den vielen Lobhudeleien hebt sich deutlich Christoph Schröder ab, der in der Diskussion der “SWR Bestenliste Mai 2024, das Buch - ganz in meinem Sinne - zerreißt:

SWR Bestenliste Mai 2024

https://www.swr.de/swrkultur/literatur/bestenliste/swr-bestenliste-20240505-1704-swr-bestenliste-mai-100.html

(Audio-) Link zur Diskussion:

https://avdlswr-a.akamaihd.net/swr/swrkultur/literatur/bestenliste/swr-bestenliste-20240505-1704-04-didier-eribon-eine-arbeiterin-leben-alter-und-sterben.m.mp3


Sehr kritisch äußert sich auch Guido Kalberer in der NZZ:
NZZ Guido Kalberer: Selbst beim Sterben herrscht Klassenkampf: Didier Eribon schreibt über seine Mutter, NZZ 12.03.2024,

https://www.nzz.ch/feuilleton/klassenkampf-beim-sterben-didier-eribon-schreibt-ueber-seine-mutter-ld.1820665  


Mangelnde Empathie

Seine Mutter, die bei Eribon nicht zufällig ohne Vornamen bleibt, ist bloss ein Pars pro Toto, eine von unzähligen Alten, die der «strukturellen Gewalt» in den Institutionen unterliegen. Um ihre Individualität und Einzigartigkeit jenseits gesellschaftlicher Konventionen und Schablonen in den Blick zu bekommen, hätte Didier Eribon seine überhebliche Haltung, die sich aus seiner intellektuellen Überlegenheit nährt, ablegen müssen.

[...]

In beiden Abschiedsbüchern [ Rückkehr nach Reims; Die Arbeiterin] geht es ... um den klassenflüchtigen Linken, der in Paris seinen «hinterwäldlerischen Akzent» ablegt, um die herrschende Sprache, also die Sprache der Herrschenden, zu sprechen. Der gut situierte Bürger schaut auf seine provinzielle Herkunft herab und kann nicht begreifen, dass Arbeiterinnen wie seine Mutter vom kommunistischen Weg abgekommen und zum Front national übergelaufen sind. Didier Eribon fehlt die Kraft oder der Wille, diese gesellschaftlich bedeutsame politische Wende analytisch zu durchdringen und auf den Begriff zu bringen. Dabei wäre es doch die vornehmste Aufgabe eines Soziologen, Veränderungen in der Gesellschaft zu erfassen und einzuordnen – auch und vor allem dann, wenn sie nicht so

vonstattengehen wie erwünscht. Doch die Distanz, die der Arbeitersohn ein Leben lang auf- und ausgebaut hat und auf der letztlich seine Karriere beruht, verhindert die Nähe, die erforderlich wäre, um die Person zu verstehen, die seine Mutter war: nämlich mehr als «eine Arbeiterin».



Eine Lobeshymne geradezu mit ungewollten Einsprengseln von Kritik findet sich bei Nils Minkmar in der SZ: 
SZ Nils Minkmar: Didier Eribons Buch "Die Arbeiterin": Hymne an die Schwäche

8. März 2024, 13:31 Uhr

https://www.sueddeutsche.de/kultur/didier-eribon-die-arbeiterin-literatur-rezension-buchempfehlungen-frankreich-1.6433643 


Minkmar, den ich als Autor und Journalist sehr schätze, ist völlig gefangen von der Präsenz des Autors, der  im persönlichen Gespräch ein aufmerksamer, höflicher und humorvoller Mensch ist, und genau das entfaltet sich auch, wenn er schreibt. Er verfällt nicht in einen wissenschaftlichen Jargon und jagt keiner literarischen Mode nach, sondern schreibt, als würde man an seinem Tisch im Café sitzen. [...] Er wirkt und lebt als öffentlicher Intellektueller. Sein wesentlicher Arbeitsplatz sind die Cafés des Quartiers Latin, wenn er nicht gerade in der ganzen Welt umherreist.


Das ist so ziemlich das Gegenteil von dem, wie ich den Autor sehe, aber in einem Punkt hat Minkmar (vermutlich ungewollt) recht: Der Autor schreibt, wie man im Pariser Café tratscht, nämlich über Gott und die schlechte Welt, mit Einsprengseln von soziologischem Schlaumeierwissen, nie ganz ernst zu nehmen, auch gerne immer wieder das  wiederholend, was man schon in allen anderen Büchern vorher geschrieben hat. 


Aber auch an einer zweiten Stelle hat Minkmar wohl ungewollt aufgedeckt, was Eribon umtreibt: Es ist eine neu formulierte Ideologie der Freundschaft, die sich aufs Schönste dazu eignet, die eigene Herkunft und Familie zu verleugnen, und zwar nicht nur ideologisch, sondern ganz real, das heißt im grauen, wenig illustren oder gar glamourösen Alltag. 


Minkmar schreibt weiter:
De Lagasnerie hat ein Buch über das Thema der Freundschaft geschrieben und stellt dort den gesellschaftlichen und administrativen Vorrang der Familie vor der Freundschaft infrage. Das intellektuelle Trio ist Vorreiter einer besseren Anerkennung der Freundschaftsbande als Keimzelle der Gesellschaft. [...] 
Dieses Motiv klingt auch in "Die Arbeiterin" an. Denn Eribon trifft zwar mit einem seiner Brüder zusammen, als sie den Umzug der Mutter in ein Altersheim ausführen. Der Bruder meckert, das Einräumen der Wäsche in den Schrank sei Frauenarbeit. Didier notiert: "Was verbindet uns? Nichts. Wie befremdlich und nahezu unerträglich das sein kann, was man gemeinhin "Familienbande" nennt. (...) Was verband uns? Nichts. Rein gar nichts. Außer der Tatsache, dass wir hier waren, um uns um unsere Mutter zu kümmern, dass wir hier sein mussten." [...]

Und immer noch Minkmar
Allerdings - und das ist der schmerzliche Kern der Sache - konnte seine Mutter noch sehr genau beschreiben und ausdrücken, was ihr in dem Heim angetan wurde. Sie sprach es dem Sohn auf die Mailbox. Der reagierte nicht, war unterwegs.[...] 

Denn, so die logische Schlussfolgerung: Freundschaft zählt mehr als die Nöte der eigenen Mutter. Wie konnte Minkmar dieses Verhalten einerseits notieren, aber in seiner Schäbigkeit nicht erkennen? 

Weitere Rezensionen:

taz: Leben einer französischen Arbeiterin

VON NINA APIN

https://taz.de/Leben-einer-franzoesischen-Arbeiterin/!5996416/


FAZ. Ich war ein Sohn, jetzt bin ich keiner mehr

VON BARBARA VON MACHUI

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/didier-eribons-neues-buch-eine-arbeiterin-leben-alter-und-sterben-19568121.html 


FAZ: Scham und Würde

VON CORD RIECHELMANN-AKTUALISIERT AM 15.03.2024-

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/scham-und-wuerde-didier-eribons-buch-ueber-seine-mutter-19588869.html  

Zitat:

Wie hier bettet der Soziologe Eribon die persönliche Situation der Mutter immer so
unaufdringlich in allgemeine Lehren ein, ...
Genau das ist aber das Problem des Textes. Es geht nicht um seine Mutter und seinen Anteil an deren Vereinsamung am Lebensende, es geht immer nur um Ideologie. Die Mutter ist nur ein Fallbeispiel. Deshalb ist seine Selbstanklage (s.o.) einfach nur heuchlerisch und schäbig.

Freitag, 3. Mai 2024

Die SZ illustriert die Gefährlichkeit der Reichsbürger...

... und mit Waffen aus dem Museum.

Samstag, 23. März 2024

Varian Fry / Anmerkungen zum Buch von Uwe Wittstock: Marseille 1940

Varian Fry war ein amerikanischer Journalist, der im Auftrag vom ERC (Emergency Rescue Committee) von 1940 bis Mitte 1941 mehr als Zweitausend Künstlern, Intellektuellen, Politikern die Ausreise aus Frankreich ermöglichte, darunter praktisch die gesamte deutschsprachige dichterische Elite, und sie damit vor dem Zugriff der deutschen Besatzungsmacht rettete. 1995 wurde er dafür als “Gerechter unter den Völkern” ausgezeichnet und in Israels Holocaust-Mahnmal Yad Vashem aufgenommen. 

(Mehr zur Biografie und zur Tatsache des völligen Vergessens bis in die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts findet man bei Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Varian_Fry)


Seit einigen Jahren ist er jedoch wieder im Gespräch, und eine Reihe von Büchern beschäftigt sich mit ihm und seinem Werk:

  • Im Jahr 1986 erschien seine Autobiographie aus dem Jahr 1945 (Surrender on Demand) unter dem Titel Auslieferung auf Verlangen, 1995 dann als Taschenbuch.
  • Ende 2007 gab es in Berlin eine umfangreiche Ausstellung des “Aktiven Museums Faschismus und Widerstand in Berlin” über sein Wirken und einen Katalog dazu, ein Wälzer von fast 500 Seiten mit 21 Beiträgen zur Person, den Zeitumständen, Weggefährten und seiner konkreten Arbeit in Marseille 1940/1941, und zum unschlagbaren Preis von 20 € heute noch erhältlich!
  • 2013 erschien in Zürich eine romanhafte Darstellung seiner Arbeit in Marseille: Eveline Hasler - Mit dem letzten Schiff. Die gefährliche Mission des Varian Fry; 2017 in 3. Auflage.
  • 2019 spielt Varian Fry eine wichtige Rolle auch in Manfred Flügges Buch: Das flüchtige Paradies. Deutsche Schriftsteller im Exil an der Côte d’ Azur.

Es sollte auch nicht unerwähnt bleiben, dass in Berlin seit Ende 1997 eine kleine Seitenstraße beim Potsdamer Platz den Namen Varian-Fry-Straße trägt.


Ich erwähne das so ausführlich, weil im Buch von Uwe Wittstock von all diesen Werken nur die Autobiographie von Varian Fry erwähnt wird. Der Rest: Schweigen.

Ist das jetzt einfach nur Schlamperei oder will der Autor nicht offenlegen, aus welchen Quellen er noch geschöpft hat? Will er damit die Legende befeuern, sein Buch erzähle zum ersten Mal die Geschichte von Varian Fry? Es ist auf jeden Fall undankbar gegenüber all diesen Autoren und Autorinnen und vor allem gegenüber der unschätzbaren Leistung des Berliner Kollektivs im Umfeld des Aktiven Museums Faschismus und Widerstand in Berlin.

Hatte Wittstock das nötig?


Das Buch selbst ist eine plastische und farbige Erzählung des Lebens der vorwiegend deutschen Exilanten in Marseille nach der französischen Niederlage. Hannah Arendt, Walter Benjamin, Anna Seghers, Lion Feuchtwanger, Heinrich und Golo Mann, Franz Werfel, Hans Sahl, oft mit Angehörigen und wie bei Anna Seghers, gar mit Kindern. Sie und viele andere kämpfen einen verzweifelten Kampf um Ausreiseerlaubnisse aus Frankreich, Durchreiseerlaubnis durch Spanien, Einreise- und AUsreiseerlaubnisse aus Portugal und nicht zuletzt um ein unverzichtbares Affidavit  für die Einreise in die USA -  und immer ist es Varian Fry, der mit Geld, gefälschten Dokumenten und persönlicher Fürsorge für Lösungen sorgt.

 

Marseille, Place Varian Fry

All dies und nicht zuletzt die Darstellung der Zusammenarbeit der französischen Vichy-Regierung mit der deutschen Gestapo, geben ein bedrückendes Gefühl vom Exil in Frankreich wieder und können auch heute noch einen spürbaren Eindruck vom Leben im Exil hinterlassen. Dies gilt nicht nur für die längst vergangenen Jahre, sondern in Ansätzen auch für die heutige Situation vieler Asylsuchender in Deutschland. Es waren nicht zuletzt die französischen Erfahrungen, die zum deutschen Grundrecht auf Asyl führten. Bis 1993 war es in Artikel 16, Absatz 2, verankert: Politisch Verfolgte genießen Asylrecht, danach wurde es immer wieder geändert und verwässert, ergänzt durch bürokratische Regelungen, die einer Durchführungsverordnung aus einer Staatskanzlei des 19. Jahrhunderts alle Ehre machen würden und die den mangelnden Respekt der politischen Mehrheiten im Bundestag vor der Verfassung in aller Deutlichkeit belegen.


Uwe Wittstock hat ohne Zweifel ein wertvolles Buch geschrieben, indem er dies alles wieder in Erinnerung ruft. Schade um die editorischen Mängel. 

 Rezensionsübersicht beim Perlentaucher




Samstag, 2. März 2024

Donnerstag, 4. Januar 2024

Belle Époque in Paris #2: Chartier

In einem der letzten Beiträge hier habe ich über einen neuen Trend unter den Pariser Restaurants berichtet: Man nennt sich jetzt nicht mehr Bistro, wie in früheren Jahren - und schon gar nicht Restaurant, sondern Bouillon Dingsda. Inzwischen gibt es laut Google (mindestens) zwanzig dieser neu-alten Suppenküchen aus der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert.

Das ehemals einfache, aber in den letzten Jahren auch hoffnungslos überfüllte Belle Époque-Restaurant "Chartier" in der Rue du Faubourg Montmartre heißt seit 20019 ebenfalls so wie einst bei seiner Gründung "Bouillon", ergänzt durch den Zusatz Chartier Grands Boulevards. (Es gibt noch ein weiteres Bouillon Chartier am linken Seineufer.)



Mit diesem Restaurant verbinde ich eine ganz besondere Geschichte.

Mit meinem Sohn, der damals noch keine 14 Jahre alt war, verbrachte ich im Frühjahr 1994 einige Tage in Paris. Wir wohnten bei einer entfernten Cousine meiner Mutter, die mit einem Franzosen verheiratet ist und in Guyancourt in der Nähe von Versailles lebt. Von dort aus machen wir täglich Ausflüge nach Versailles und Paris.

Am 7. April führe ich ihn in ein unter uns jungen Leuten (jedenfalls fühlte ich mich damals noch so) extrem angesagtes Restaurant in Paris: das Chartier. Es liegt unweit der Grands Boulevards in der Rue du Faubourg-Montmartre und ist im klassischen Art-Déco-Stil gehalten (oder ist es "Art Nouveau"?). Und was besonders attraktiv ist: Es ist extrem billig. Nicht nur für Franzosen, sondern vor allem für deutsche Touristen, denn der Wechselkurs lag damals bei etwa 1 FFR=0,30 DM lag.

Wir betreten das Lokal gegen Mittag und ich bin irritiert - es ist völlig leer. Die wenigen Gäste verlieren sich im Erdgeschoss und auf der Galerie.  

Der Kellner, traditionell gekleidet mit langer Schürze, ist überrascht und geradezu begeistert, als ich das Menu Suggestion bestelle und zwar mit Rosbeef als Hauptgang. (Mein Sohn bestellt Würstchen.)

Was ist los? Wir schreiben das Jahr 1994 - das Jahr, in dem die so genannte "BSE-Krise" in Europa ihren Höhepunkt erreicht. Niemand isst Rindfleisch, nur ein deutscher Tourist in Paris. Die deutsch-französische Freundschaft erreicht hier wohl einen unerwarteten Höhepunkt. (Wobei: das Essen war eher bescheiden, dem Preis angemessen).

Viele Jahre später besuche ich mit Sabine wieder das Lokal - und die Erfahrung ist eine ganz andere. Obwohl wir sehr früh am Abend kommen, ist das Lokal schon voll. Der Service ist hektisch, das Essen nach wie vor recht anspruchslos, die Preise deutlich überzogen und kaum haben wir den Kaffee zum Nachtisch bestellt, wird uns auch schon die Rechnung serviert und signalisiert, dass wir unsere Plätze räumen sollen. 

Vor dem Lokal eine lange Schlange geduldig wartender Menschen, die sich durch den langen Gang in Form einer typischen Pariser Passage bis um die Ecke in die Rue du Faubourg-Montmartre zieht. Touristen wie wir.

Adieu Chartier. Adieu Bouillon Chartier Grands Boulevards.




 

Dienstag, 19. Dezember 2023

Chez Julien - Belle Époque in Paris #1

Façade du Restaurant Julien, 16bis rue du Faubourg Saint-Denis (Paris)

Es war Anfang der siebziger Jahre. Christel, meine damalige Freundin und spätere Frau, und ich fuhren mit Gauf-Reisen von Frankfurt a.M. nach Paris. Die Firma Gauf in der Münchener Straße war bekannt für ihre preiswerten Paris-Reisen: Zwei-, Drei-, Vier- und Mehrtagestouren, die auch für junge Leute bezahlbar waren.

Die Busfahrt beginnt am späten Freitagabend am Darmstädter Hauptbahnhof und soll uns am Dienstagnachmittag wieder zurückbringen. Morgens um 5 Uhr gibt es eine Pause im Bahnhofscafé von Châlons-sur-Marne (seit 1997 heißt der Ort Châlons-en-Champagne!), der erste Café au Lait ist fällig und natürlich die wunderbaren Croissants. Ein Geschmack, den ich noch heute, 50 Jahre später, immer wieder genieße.

In Paris wollen wir unter anderem ein altes Restaurant besuchen, “Chez Julien”, von dem ich in einer Reportage gehört habe. (War es bei Georg Stefan Troller im “Pariser Journal”? Egal).
Das Restaurant liegt gleich um die Ecke von unserem Hotel im Faubourg St. Denis. Ehrfürchtig blicken wir durch die verzierten Fenster ins Innere und bewundern die Schönheit des Belle-Epoque-Ensembles. Wir treten ein, genießen ein einfaches, preiswertes Essen und fühlen uns in das vergangene Jahrhundert zurückversetzt. Uns war klar: Ja, das ist das echte Frankreich.

Ein, zwei Jahre später stehen wir wieder vor dem Lokal. Aber als Gäste sieht man uns nicht mehr. Es hat sich in einen teuren Gourmettempel verwandelt, die Preise sind für uns junge Deutsche unbezahlbar. Schade, aber es gibt noch andere Lokale, zum Beispiel das Chartier, nicht weit entfernt und mit ähnlichem Flair.


Fast fünfzig Jahre sind vergangen. Ich sehe ein Foto in der ZEIT und es trifft mich wie ein Blitz: Ist das nicht das einst geliebte “Julien”? In der Tat. Das Foto dient als Aufmacher für einen Artikel von Ijoma Mangold über einen neuen Trend in der Pariser Gastronomie: Essen wie die einfachen Leute. Man geht nicht mehr ins Restaurant, man geht ins "Bouillon", d.h. in die Suppenküche zum Essen, wie einst im 19. Jahrhundert. Nur die Preise sind noch so hoch wie in den Jahren zuvor. Also wird es wieder nichts mit einem Besuch.

https://www.zeit.de/2023/43/gastronomie-paris-bouillon-julien-restaurants-frankreich

Übrigens: Das ehemals einfache und in den letzten Jahren überlaufene Belle Époque-Restaurant "Chartier"  in der Rue du Faubourg Montmartre heißt jetzt auch wieder wie einst zur Zeit seiner Gründung "Bouillon (Chartier)" 🙂. Vielleicht später mehr dazu. Bleiben Sie dran!

Freitag, 15. Dezember 2023

Schatten der Vergangenheit #2: Zeitgeist auf Abwegen

 
Nur die dümmsten Kälber, wählen ihren Schlächter selber. (B.B.)

Aber wir haben in dieser Woche ja auch gelernt:


Montag, 23. Oktober 2023

„Eilt: Wording Migration / TV-Interviews“

Das Wort Wording sollte eigentlich seit der Ahrtal-Katastrophe und dem Kommunikationsdesaster der damaligen rheinland-pfälzischen Umweltministerin Anne Spiegel so tot wie irgend was sein.  

Weit gefehlt. Die Fraktionsspitze der Grünen in Baden-Württemberg greift nun ebenfalls zu diesem toxischen Begriff und gibt den Abgeordneten im Landtag aus aktuellem Anlass (ist das der Imageverlust der Grünen in der öffentlichen Diskussion?) Sprachregelungen mit auf den Weg. 

Per Mail-Newsletter an die Landtagsfraktion der Grünen, Oktober 2023 Betreff: „Eilt: Wording Migration / TV-Interviews“

Darin heißt es gleich zu Beginn
1. Grundsätzliche Position der Grünen zur Migration
Für die Anliegen der Menschen habe ich vollstes Verständnis.

...
In diesem Politik-Neusprech-Stil geht es dann weiter. So heißt es zum Beispiel:
Wir müssen an wirksamen Lösungen arbeiten, die die Situation vor Ort tatsächlich verbessern. Und: Ich erlebe viel Zuversicht und Optimismus bei Bürgern und Unternehmen. Blablaba

Für mich bedeutet dieses banale Gequatsche zweierlei: Entweder hält die Fraktionsführung die Abgeordneten für geistig so beschränkt, dass sie auf solche kindischen Sprachregelungen angewiesen sind, oder aber, 
dass die Abgeordneten tatsächlich dringend solcher “Hilfen” bedürfen. In beiden Fällen habe ich große Zweifel, ob ich die Grünen als politisch gestaltende Kraft noch ernst nehmen kann.

Vor Jahren war ich nahe daran, Mitglied der Grünen zu werden. Heute wäre ich sicher nahe daran, auszutreten.

Den vollständigen Text des “Wordings” findet man über diese Seite: 
KONTEXT:
Wochenzeitung