(Mehr zur Biografie und zur Tatsache des völligen Vergessens bis in die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts findet man bei Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Varian_Fry)
Seit einigen Jahren ist er jedoch wieder im Gespräch, und eine Reihe von Büchern beschäftigt sich mit ihm und seinem Werk:
- Im Jahr 1986 erschien seine Autobiographie aus dem Jahr 1945 (Surrender on Demand) unter dem Titel Auslieferung auf Verlangen, 1995 dann als Taschenbuch.
- Ende 2007 gab es in Berlin eine umfangreiche Ausstellung des “Aktiven Museums Faschismus und Widerstand in Berlin” über sein Wirken und einen Katalog dazu, ein Wälzer von fast 500 Seiten mit 21 Beiträgen zur Person, den Zeitumständen, Weggefährten und seiner konkreten Arbeit in Marseille 1940/1941, und zum unschlagbaren Preis von 20 € heute noch erhältlich!
- 2013 erschien in Zürich eine romanhafte Darstellung seiner Arbeit in Marseille: Eveline Hasler - Mit dem letzten Schiff. Die gefährliche Mission des Varian Fry; 2017 in 3. Auflage.
- 2019 spielt Varian Fry eine wichtige Rolle auch in Manfred Flügges Buch: Das flüchtige Paradies. Deutsche Schriftsteller im Exil an der Côte d’ Azur.
Es sollte auch nicht unerwähnt bleiben, dass in Berlin seit Ende 1997 eine kleine Seitenstraße beim Potsdamer Platz den Namen Varian-Fry-Straße trägt.
Ich erwähne das so ausführlich, weil im Buch von Uwe Wittstock von all diesen Werken nur die Autobiographie von Varian Fry erwähnt wird. Der Rest: Schweigen.
Ist das jetzt einfach nur Schlamperei oder will der Autor nicht offenlegen, aus welchen Quellen er noch geschöpft hat? Will er damit die Legende befeuern, sein Buch erzähle zum ersten Mal die Geschichte von Varian Fry? Es ist auf jeden Fall undankbar gegenüber all diesen Autoren und Autorinnen und vor allem gegenüber der unschätzbaren Leistung des Berliner Kollektivs im Umfeld des Aktiven Museums Faschismus und Widerstand in Berlin.
Hatte Wittstock das nötig?
Das Buch selbst ist eine plastische und farbige Erzählung des Lebens der vorwiegend deutschen Exilanten in Marseille nach der französischen Niederlage. Hannah Arendt, Walter Benjamin, Anna Seghers, Lion Feuchtwanger, Heinrich und Golo Mann, Franz Werfel, Hans Sahl, oft mit Angehörigen und wie bei Anna Seghers, gar mit Kindern. Sie und viele andere kämpfen einen verzweifelten Kampf um Ausreiseerlaubnisse aus Frankreich, Durchreiseerlaubnis durch Spanien, Einreise- und AUsreiseerlaubnisse aus Portugal und nicht zuletzt um ein unverzichtbares Affidavit für die Einreise in die USA - und immer ist es Varian Fry, der mit Geld, gefälschten Dokumenten und persönlicher Fürsorge für Lösungen sorgt.
All dies und nicht zuletzt die Darstellung der Zusammenarbeit der französischen Vichy-Regierung mit der deutschen Gestapo, geben ein bedrückendes Gefühl vom Exil in Frankreich wieder und können auch heute noch einen spürbaren Eindruck vom Leben im Exil hinterlassen. Dies gilt nicht nur für die längst vergangenen Jahre, sondern in Ansätzen auch für die heutige Situation vieler Asylsuchender in Deutschland. Es waren nicht zuletzt die französischen Erfahrungen, die zum deutschen Grundrecht auf Asyl führten. Bis 1993 war es in Artikel 16, Absatz 2, verankert: Politisch Verfolgte genießen Asylrecht, danach wurde es immer wieder geändert und verwässert, ergänzt durch bürokratische Regelungen, die einer Durchführungsverordnung aus einer Staatskanzlei des 19. Jahrhunderts alle Ehre machen würden und die den mangelnden Respekt der politischen Mehrheiten im Bundestag vor der Verfassung in aller Deutlichkeit belegen.
Uwe Wittstock hat ohne Zweifel ein wertvolles Buch geschrieben, indem er dies alles wieder in Erinnerung ruft. Schade um die editorischen Mängel.
Rezensionsübersicht beim Perlentaucher