Sonntag, 9. Juli 2023

Klassenkampf von Oben

 Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 9.7.23 schlagzeilt:


In der Redaktion hat man allerdings einen Zusatz vergessen. Es müsste korrekt heißen:

FINGER 

WEG VOM 

ELTERNGELD 

FÜR WOHLHABENDE!


Ich kriege das ganz große Kotzen.

Montag, 3. Juli 2023

Inge Joseph als Romanfigur

 Bei meinen Recherchen zur Lebensgeschichte von Inge Joseph bin ich auf ein weiteres Buch gestoßen, das sich mit den jüdischen Kindern von Schloss La Hille beschäftigt.

Es stammt ebenfalls von einer Schweizer Autorin. (Sie erinnern sich vielleicht: Den Anstoß zu meinen Recherchen gab ein Satz aus dem Buch von Eveline Hasler: Mit dem letzten Schiff. Die gefährliche Mission von Varian Fry, der sich auf Inge Joseph aus Darmstadt bezieht). 


Das gefundene Buch ist Franziska Greising: Am Leben und behandelt in romanhafter Weise die Geschichte der Kinder von La Hille bis Anfang 1943, vor allem die Geschichte von Inge Joseph. 

Ich finde es generell legitim und prinzipiell sinnvoll, Zeitgeschichte in romanhafter Form darzustellen, weil viele, vor allem jüngere Menschen vielleicht nur so einen Zugang zur Zeitgeschichte finden. Und im Falle der ‘Aufarbeitung der jüngeren Geschichte des Antisemitismus” halte ich das sogar für notwendig und förderungswürdig. In diesem Sinne ist sowohl Franziska Geising als auch Eveline Hasler ein spannender und emotional mitfühlender Roman gelungen. 

Dennoch habe ich in meiner Rezension des Romans von Eveline Hasler einige Vorbehalte geäußert, und diese Vorbehalte habe ich in noch größerem Maße gegenüber dem Setting von Franziska Geising.

Das fängt schon damit an, dass sie die Namen der handelnden Personen in nicht nachvollziehbarer Weise einmal originalgetreu wiedergibt und in anderen Fällen verschleiert. So wird Inge Joseph mit ihrem richtigen Namen genannt, während ihr Freund im Exil, Walter Strauss, den Namen “Chaim” erhält. Eine Begründung fehlt. Ähnlich verhält es sich mit anderen Akteuren.
 
Geradezu verstörend finde ich die Umbenennung von Rösli Näf in Rose Näf. Schon Eveline Hasler hat eine eigenwillige Umbenennung in Rösy Näf vorgenommen, und dieses Vorbild hat wohl Frau Greising bewogen, ihrer Vorgängerin zu folgen.
Im Unterschied dazu begründet sie aber die Umbenennung im Epilog des Buches. Ich gebe die Stelle ungekürzt wieder:

Sie trifft sich mit einem Neffen von Rösli Näf, genannt “j." und befragt ihn.
Darauf will ich wissen, was J. davon hält, wenn ich meine Figur im Roman Rose nennen würde, statt Rösli, wie sie sich nannte, und wie sie alle Dokumente unterschrieb.
Er meint, sie habe halt tatsächlich Rösli geheißen. Ihr nachträglich einen andern Namen anzuhängen, das scheine ihm doch etwas fremd. Ich verstehe deine Einwände, gebe ich zu, lange Zeit hatte ich dasselbe gedacht. Und aus Respekt den Namen nicht angetastet. Doch es wollte mir je länger, je weniger gelingen. Der Name Rösli wurde der Frau, die mir aus den spärlichen Dokumenten, den Interviews und den paar Fotos entgegenkam, nicht länger gerecht. Es war wenig, was ich von ihr in Erfahrung bringen konnte, doch als ich anfing, dieses karge Material mit den Zeitumständen, der Umgebung, den Anforderungen, die an sie gestellt wurden, und schließlich mit den Tagebüchern und Erzählungen all derer abzu- gleichen, die von La Hille berichtet haben, legte sie den Diminutiv ab (der zu einem Teil ihrer Bescheidenheit zugeschrieben werden könnte) und wurde mehr und mehr zu Rose. Und mehr und mehr war ich überzeugt, sie hätte eingewilligt in den erneuerten Namen. Mir kam dabei auch Goethe in den Sinn, und ich dachte: Ein Röslein lässt sich brechen, mit einer Rose geht das nicht so leicht. 
J. antwortet: Du bist die Autorin. Das respektiere ich. 
(S.496)
Für mich ist das eine unangemessene Selbstermächtigung, die in keiner Weise überzeugt. Schon die Sprache ist verräterisch: legte sie den Diminutiv ab. Nein, nicht Frau Näf hat diese Wendung vollzogen, sondern die Autorin. Was von ihr alleine gewollt war, wird als quasi naturgegeben verschleiert. Höhepunkt der Anmaßung ist es dann, der toten Rösli Näf ein mögliches Einverständnis zu unterstellen. 
Der Neffe hat ihr auch keineswegs einen Freibrief ausgestellt, sondern nur auf ihre Rolle als Autorin hingewiesen. Ihrer Rechtfertigung der Namensänderung mit dem Hinweis auf Goethes Gedicht könnte auch damit widersprochen werden, dass sich die Eltern von Rösli Näf bei der Namenswahl möglicherweise gerade von diesem Gedicht haben leiten lassen, so dass eine nachträgliche, eigenmächtige Änderung durch die Autorin in höchstem Maße übergriffig ist.

Es gibt einen weiteren Einwand gegen die Arbeitsweise der Autorin, den ich für noch schwerwiegender halte: Man bekommt beim Lesen den Eindruck, dass das Buch in weiten Teilen eine schamlose Übernahme der Vorlage von David. E. Gumpert: Inge - A Girl’s Journey through Nazi Europe ist.
Schamlos in meinen Augen deshalb, weil sie im Literaturverzeichnis unter der Überschrift "Literatur, die mich begleitet hat" die eigentliche Quelle mehr versteckt als offen zu legen. Offensichtlich vertraut die Autorin darauf, dass das englische Original im deutschsprachigen Raum zu wenig bekannt ist, als dass ihre Paraphrase des Originals erkannt würde. Viele Passagen werden fast wörtlich (in Übersetzung) übernommen, ohne dass dies kenntlich gemacht wird. Dazwischen gibt es immer wieder erfundene Dialoge, die Farbe in den Roman bringen sollen, vor allem was die Liebesbeziehung zwischen Inge und Walter betrifft. Realität und Phantasie vermischen sich, werden aber nicht offengelegt. 

Freizügige Übernahmen von Texten anderer Autoren und eigenwillige Namensänderungen finden sich auch bei Eveline Hasler. Ist das nun ein neues,  spezifisches Stilmerkmal Schweizer Autorinnen?

Franziska Greising: Am Leben. Verlag Zytglogge; New Edition, Basel 2016.

Sonntag, 2. Juli 2023

Schatten der Vergangenheit #1: Deutschland 2023

Freispruch für den Mediziner und Autor Sucharit Bhakdi 

Der pensionierte Professor für Mikrobiologie: Sucharit Bhakdi. 
Foto: Christian Charisius/dpa (Foto: dpa) 

Das Amtsgericht im schleswig-holsteinischen Plön hatte Bhakdi, der als Ikone der "Querdenker"- Bewegung gilt, am 23. Mai vom Vorwurf der zweifachen Volksverhetzung freigesprochen. Das Gericht bewertete Reden des Angeklagten während der Corona-Pandemie als nicht strafbar.

Was hatte Bhakdi gesagt?


Kann man diesen Text anders verstehen als antijüdische Hetze im schlimmsten Nazi-Stürmer-Stil? Gibt es hier irgendeinen Spielraum der Interpretation: Das Volk der Juden, das Böses geschaffen hat, wie schon immer?

Richter Malte Grundmann am Amtsgericht Plön hatte in seiner Begründung gesagt, es sei nicht vollständig auszuschließen, dass Bhakdi mit seinen Äußerungen nur die israelische Regierung und nicht das Volk meinte.

Diese Begründung lässt für mich nur zwei Interpretationen zu:
 
ENTWEDER kann Herr Grundmann nicht lesen, weil er Analphabet ist,
ODER hier hat jemand bewusst einen Antisemiten decken wollen. 

Dass achtzig Jahre nach dem Holocaust ein solch skandalöses Urteil möglich ist,macht mich sprachlos. Aber genauso sprachlos macht mich, wie schnell dieses Schandurteil wieder aus den Medien verschwunden ist. Ich hoffe jetzt, dass die Beschwerde der Staatsanwaltschaft Erfolg hat und Bhakdi als das verurteilt wird, was er ist: ein Antisemit.

Quelle: Stern

Samstag, 1. Juli 2023

Schatten der Vergangenheit #2: Historische Wurzeln

Françoise Frenkel: „Nichts, um sein Haupt zu betten“. Mit einem Vorwort von Patrick Modiano
Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Carl Hanser Verlag, München 2016
288 Seiten

Bei der Recherche zu Inge Joseph aus Darmstadt bin ich auch auf dieses Buch gestoßen, das unter anderem eine Fluchtgeschichte einer Jüdin von Frankreich in die Schweiz erzählt.

1921, kurz nach Abschluss ihres Studiums, verlässt die Polin Françoise Frenkel Paris und eröffnet in Berlin die erste französische Buchhandlung mit ausschließlich französischer Literatur. Unter dem Druck der nationalsozialistischen Herrschaft verlässt sie kurz vor Kriegsausbruch 1939 Berlin und kehrt nach Paris zurück. Von dort flieht sie 1940 vor den Deutschen nach Südfrankreich.

In ihren bereits 1945 erschienenen Aufzeichnungen schildert sie das Leben unter der deutschen Besatzung, die Unterstützung, die sie von vielen Franzosen erfährt, aber auch die Kollaboration und Judenverfolgung  durch die Vichy-Regierung. Nach vielem Herumirren gelingt ihr nach dreimaligem Anlauf 1943 die Flucht in die Schweiz. Kurios: Sie hatte ein Einreisevisum für die Schweiz, aber als Jüdin keine Ausreiseerlaubnis aus Frankreich.

Bei der Lektüre erinnerte mich Vieles an die Berichte von Léon Werth ( Als die Zeit stillstand. Tagebuch 1940–1944) und Irène Némirovsky (Suite française), die ich schon vor längerer Zeit gelesen habe. 

Françoise Frenkels Geschichte über Flucht, Verstecken und Rettung ist berührend und oft verstörend, aber an einer Stelle musste ich doch schmunzeln. 

Sie schildert eine Szene in Berlin, wohl zwischen 1935 und 1938:
Plötzlich flog die Ladentür krachend auf und die Nazi- Blockwartin unseres Hauses stürmte herein. Eine Frau mit Gorgonenhaupt, in jeder Hand hielt sie zwei leere Konservenbüchsen.
»Verstehen Sie Deutsch?«, schrie sie.
»Ja, sicher«, sagte ich eher verwundert.
»Gehören Ihnen diese vier Metallbüchsen?«
»Das weiß ich nicht, ich werde meine Putzfrau fragen; warum denn?« 
»Sie gehören Ihnen. Ich weiß es, und ich sage es Ihnen! Alle Deutschen wissen, für die Entsorgung von Konservenbüchsen gibt es einen anderen Behälter als die Mülltonne, eine eigene Kiste mit Aufschrift! Sie kriegen eine gesalzene Strafe! Die wird auf der Rechnung Ihrer ›guten Weihnachtsgeschäfte‹ stehen«, fügte sie mit hasserfülltem Blick noch hinzu.
Die Megäre zog von dannen. Ein bei dem Zwischenfall anwesender Diplomat erzählte, er habe mehrere Tage lang nicht gewusst, wie er eine Aluminiumtube loswerden sollte, denn sie trug die Aufschrift: »Nicht wegwerfen«. Er wagte nicht, diese Tube in den Papierkorb seines Hotelzimmers zu tun oder sich ihrer auf der Straße zu entledigen. Endlich kam er auf die Idee, sie in einer Apotheke abzugeben, wo man ihm im Namen der Partei Anerkennung aussprach. Diese Anekdote führte in dem Augenblick zu Gelächter, konnte das Unbehagen jedoch nicht zerstreuen. S.30f

Zwei Fragen ergeben sich für mich: 
  • Welche Farbe hatte die Mülltonne? 
  • Wussten Sie, dass die deutsche Lust an der Mülltrennung auch diese Wurzeln hat?

Rezensionsübersicht:
Perlentaucher