Vor beinahe fünf Jahren habe ich in meinem Blog begeistert über das erste Buch von Annie Ernaux: Die Jahre / Les années geschrieben. In ihrem Buch sah ich mein gesamtes politisches Leben der letzten 50 Jahre widergespiegelt. Ein großer Teil meiner Generation wird es ähnlich gesehen haben. Seit dieser Zeit beschäftigte ich mich mit Annie Ernaux und arbeitete immer mal wieder an einem längeren Text zu ihren autobiographischen Büchern.
Ich hatte mir auch sofort zwei weitere - und zu diesem Zeitpunkt noch preisgünstig erhältliche - auf deutsch vorliegende Romane zugelegt: Das bessere Leben und Gesichter einer Frau. Sie handeln vom Leben ihres Vaters und der Mutter.
Ganz offensichtlich gab es schon früher Versuche, Ernaux dem deutschen Publikum vertraut zu machen. So erschien La Place (deutsch: Das Bessere Leben) 1988 in der Bundesrepublik und in der DDR (!) und Les Femmes
(deutsch: Das Leben einer Frau / Gesichter einer Frau) wurde 1993 bzw. erneut 2007 in deutscher Übersetzung veröffentlicht.
Selbst im Stoffplan der gymnasialen Oberstufe in Baden-Württemberg 2013 taucht Annie Ernaux mit ihrem Roman La Place als Leselektüre auf. Bei Reclam gab und gibt es heute noch die passende französische Textausgabe mit Erläuterungen - seit 1984!
Diese beiden auf Die Jahre folgenden Bücher zeigten mir ein Frankreich, wie ich es bisher nicht kannte. Das Frankreich der Nachkriegszeit, das Frankreich des, wie der Soziologe sagen würde, Kleinbürgertums in der Provinz mit allen Schattenseiten der sozialen und kulturellen Diskriminierung, aber auch der Selbstachtung und des Selbstbewusstseins. Das Frankreich der fehlenden feinen Unterschiede, wie Bourdieu vermutlich analysiert hätte. Das Frankreich weit ab von den Pariser Cafés und Salons.
Trotz zweier weiterer Übersetzungen ins Deutsche (Sich verlieren, 2003; ursprünglich Se perdre, Gallimard, 2001) und Eine vollkommene Leidenschaft, 2004; ursprünglich Passion simple, Gallimard, 1991 ) war die Autorin in Deutschland nahezu in der Versenkung verschwunden, als sie im Sommer 2017 überraschend wieder auftauchte - und diesmal beim renommierten Suhrkamp-Verlag (s.o.).
Annie Ernaux segelt dann ungewollt im Fahrwasser von Eribons Rückkehr nach Reims, obwohl Eribons Buch in Frankreich NACH Les Années erschien und Eribon sich ausdrücklich auf Annie Ernaux bezog!
Eribon wie Ernaux haben dann in Deutschland zu einem Boom an “auto-soziobiographischer” Literatur geführt, ich erwähne nur Daniela Dröscher und Christian Baron, und zur Popularisierung des Begriffs beigetragen, den der Duden bis heute nicht kennt. “Autosoziobiographisches Erzählen hat in der Gegenwartsliteratur Konjunktur” heißt es auf der Seite vom Kulturkaufhaus in Berlin.
Die 2018 unter dem deutschen Titel Erinnerung eines Mädchens erschienene Übersetzung von Mémoire de fille,2016 hatte meinen positiven Eindruck von Annie Ernaux weiter gefestigt (trotz kleinerer Einwände).
Schon die ersten Seiten berühren mich durch ihren Ton. Beim Lesen von Ernaux höre ich immer die Stimme eines jungen Mädchens oder einer jungen Frau. Ich "sehe" Filme von Truffaut vor mir und höre die Stimme der Erzählerin aus dem Off. Merkwürdig und vertraut.
Zum Inhalt:
Annie schaut mit großem zeitlichen Abstand auf ein Ereignis als junge Frau zurück und versteht ihr damaliges, im Begriff der Zeit “schamloses” Verhalten nur schwer. Aus der Erinnerung darüber zu schreiben ist ihr nur mit viel Überwindung möglich, denn sie erkennt, wie dumm sie damals war. Diese Geschichte ist für eine Frau vermutlich quälend zu lesen, für mich als Mann völlig fremd und dennoch berührt mich die schamhafte Reue der Autorin.
Sommer 1958: Ein katholisches Landei trifft auf die laizistische Welt außerhalb ihrer kleinbürgerlichen, engen Familie. Zum ersten Mal lebt sie für eine kurze Zeit außerhalb der Kontrolle durch die Mutter. Das jugendliche Verlangen gerät in Konflikt mit der katholischen Erziehung und den Selbstzweifeln, denen sich wohl alle jungen Mädchen ausgesetzt sehen: Bin ich schön genug? Bin ich nicht zu dick? Bin ich begehrenswert? Hinzu kommt die bedrückende Erfahrung, zur Unterschicht zu gehören und damit soziale Außenseiterin zu sein.
Sechzig Jahre später fragt sich die Autorin, ob sie wirklich dieses dumme Mädchen auf der Jagd nach der großen Liebe und der Anerkennung durch Gleichaltrige war, und vor allem: Warum hatte sie so lange gebraucht, um sich einzugestehen, dass sie vergewaltigt worden war? Aber all das scherte sie damals nicht, "weil das Glück der Gruppe größer war als die Erniedrigung". (S.71)
Soziale Scham und "Klassenverrat" werden nur am Rande thematisiert (obwohl das in Deutschland die einzige Sichtweise zu sein scheint). Im Mittelpunkt des autobiographischen Buchs steht die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Eltern und mit der eigenen Geschichte als junges, achtzehnjähriges Mädchen: Scham nicht über die Vergewaltigung in einer Ferienkolonie, wo sie als Betreuerin angestellt war, sondern darüber, dass sie diese nicht als solche erkannte und weiterhin dem Vergewaltiger willens gewesen war. Sie sah darin eine gelungene Anerkennung ihrer Person. Im franz. soziologischen Jargon könnte man sagen, weil sie die Erhebung zur Geliebten des Lagerführers als soziales Kapital in die jugendliche Gemeinschaft des Ferienlagers einbringen wollte, weil sie soziale Anerkennung im (Bei-)schlaf realisieren wollte. Das ging aber gründlich schief.
Der Roman thematisiert kein schlichtes Täter-Opfer-Verhältnis (hier: ein schamloser Mann als Täter, dort: eine naive Frau als unschuldiges Opfer), sondern den gescheiterten Versuch einer naiv-strategisch denkenden jungen Frau, sich durch sexuelle Unterwerfung soziale Anerkennung in der Gruppe zu verschaffen.
An ganz wenigen Stellen fragte ich mich, ob das mehr ist als eine konventionelle Jungmädchenprosa, die ich hier vorgesetzt bekomme? Aber sich viele Jahre später der Vergangenheit zu stellen und den Prozess der Auseinandersetzung mit der eigenen schambehafteten Biographie so überzeugend darzustellen, in einer distanzierten Sprache das unsagbare Ereignis und seine Folgen so eindrínglich zu verarbeiten, ist für mich die eigentliche, große Leistung des Romans.
Ist Annie Ernaux, wie es in manchem Feuilleton hieß, der weibliche Marcel Proust des 21. Jahrhunderts? Ich fürchte, nein. Prousts Welt war doch größer als die von Ernaux. Aber den Nobelpreis hat sie verdient (wie andere Autoren und Autorinnen ihn vermutlich auch verdient hätten; same procedure as every year, James).
Von den Büchern, die nach Erinnerungen eines Mädchens in Deutschland erschienen sind, habe ich bisher nur Die Scham (2020) / La Honte (1997) gelesen. Das neuste ins Deutsche übersetzte Buch von A.E., "Das andere Mädchen" werde ich mir allerdings nicht kaufen. Mich interessiert das Thema nicht. Ich bin auch gespannt, wie die Autorin die Literarisierung des eigenen Lebens weiterführen wird. Die Beziehung zu ihrem ehemaligen Ehemann steht ja noch aus und auch die Erziehung der Kinder ist noch nicht thematisiert worden. (Oder ist das jetzt zu giftig nachgefragt?). Aber Annie Ernaux wird eine Autorin bleiben, die ich immer im Blick behalten werde.
Rumor
Im Moment konzentriert sich die öffentliche Diskussion in den deutschen Medien auf ihr linkes Engagement in Frankreich. Ernaux ist keine Antisemitin, wer anderes behauptet, rede "Unsinn", schreibt die Frankreich-Korrespondentin Martina Meister in der Welt. (Text hinter einer Bezahlschranke)
In der SZ vom 10. Oktober stoße ich auf einen irritierenden Satz von Nils Minkmar:
Hat sie das wirklich gesagt: "Ich schreibe, um meine Rasse zu rächen"?
Hat sie vielleicht nicht, wie man in der Online-Ausgabe des Textes nachlesen kann (hinter einer Bezahlschranke). Sie hat, nach Ansicht von Nils Minkmar oder der Online-Redaktion "Klasse" gemeint. (Der Fehlerteufel ist halt ein Teufel.)
Oder doch? Auch in einem Artikel von Zeit-Online heißt es:
Die Pressekonferenz in den Räumen des Pariser Verlages Gallimard, auf der die 82-jährige Preisträgerin mittels eines schlecht ausgesteuerten Handmikros erklärte, dass sie bei der Nachricht sofort an ihre Eltern aus dem normannischen Arbeitermilieu denken musste und mit ihrer Literatur dazu angetreten sei, »ihre Rasse zu rächen«,...
Genau so in einem Artikel von Martina Meister in der WELT. (Beide Artikel hinter einer Bezahlschranke!) Auch Pascal Bruckner in der NZZ schreibt: Annie Ernaux, die nach eigenem Bekunden ihre Klasse und ihre Rasse rächen will,...
Was nun? (Auflösung am Ende des Beitrags!)
In meinen Augen macht sie tatsächlich alle Dummheiten der französischen Linken brav mit, aber in ihren Büchern ist davon so gut wie nichts zu lesen - allenfalls in "Die Jahre".
Ein Tipp:
Die privaten Videos der Familie Ernaux gibt es noch bis zum 31. Oktober auf arte.tv zu sehen. Sie wurden von Annie Ernaux persönlich sparsam kommentiert und dokumentieren die Geschichte der jungen Frau auf dem Weg zur Schriftstellerin!
Annie Ernaux’ Super 8 – Tagebücher:
Eine notwendige Ergänzung
Verfolgt man die Publikationspolitik der deutschen Verlage in jüngster Zeit, ist autosoziobiographisches Schreiben ganz gewiss der neueste heiße Scheiß, der den Markt bestimmt. Viele jüngere Autoren und Autorinnen haben den Faden von Ernaux, Eribon, Louis u.a. weitergesponnen und dabei leider verschwiegen, dass sich in Deutschland schon vor zwanzig Jahren eine sehr renommierte Autorin dieser Sache angenommen hatte. Es war Ulla Hahn, die mit ihrem sehr erfolgreichen Romanzyklus Das verborgene Wort (2001), Aufbruch (2009) und Spiel der Zeit (2014) die politisch-soziale Geschichte einer im bescheidenen, rheinisch-katholischen Milieu aufgewachsenen jungen Frau autosoziobiographisch verarbeitet hatte, als es den Begriff noch lange nicht gab. Mit dem 2017 erschienenen Buch Wir werden erwartet wurde der Romanzyklus abgeschlossen.
Wir stehen auf den Schultern von Riesen, heißt es. Nicht alle Zwerge mögen das einsehen.
Links
Rezensionsübersicht zu Annie Ernaux beim
Literaturwissenschaftlich angehauchte Rezensionsübersicht bei
Auflösung eines Rätsels
Was ist nun mir 'race' gemeint? Die deutsch-französische Autorin Christine Cazon weist mich darauf hin, dass "la race ein umgangssprachliches Wort, insbesondere im vulgären Sprachgebrauch Jugendlicher" ist. Es ist ein Synonym für die eigene Gruppe im Gegensatz zu den "Anderen". Oft in recht vulgärem Zusammenhang gebraucht, den ich hier nicht erläutern will.
Danke an Christine Cazon!
R.Wadel 9.10.2022; überarbeitet 24.10.2022