Magali Nieradka-Steiner: Exil unter Palmen. Deutsche Emigranten in Sanary-sur-Mer.
Theiss Verlag Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, 2018.
Sanary-sur-Mer war von 1933 bis 1940 Zufluchtsort und Exil für viele prominente deutsche und österreichische Schriftsteller, die vor den Nazis flohen und schließlich in dem kleinen Küstenort am Mittelmeer eine starke deutsche Kolonie bildeten. Die einheimischen Franzosen nannten in dieser Zeit den Ort oft spöttisch “Sanary les Boches”. Erst 1940, nach der Niederlage Frankreichs, löste sich diese “Kolonie” auf, denn es bestand die Gefahr, dass die deutschen und österreichischen Exilanten nach Deutschland ausgewiesen werden, so wie es das Waffenstillstandsabkommen zwischen Deutschland und Frankreich verlangte.
In diesem kleinen Küstenort traf sich nach der Machtergreifung der Nazis alles, was in der deutschsprachigen Kultur Rang und Namen hatte. Lion Feuchtwanger mit Frau und Geliebter, Thomas Mann mit Frau und allen Kindern, Bert Brecht war kurze Zeit dort mit Begleiterin, Arnold und Stefan Zweig und viele andere auch. In Sanary gibt es heute eine Gedenktafel, die fast alle deutschen Gäste auflistet. Im Touristenbüro kann man einen Plan mit den Schauplätzen des deutschen Exils in Sanary erstehen und die Häuser, in denen die Exilanten wohnten, wurden mit Informationstafeln ausgestattet.
Von --Anima 21:00, 28 September 2007 (UTC) - Eigenes Werk,
CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2836383
Die Geschichte des Exils in Sanary erzählt die Autorin anschaulich und kenntnisreich, mit vielen Verweisen und Querverweisen, so dass sich dem Leser ein anschauliches Bild vom Leben der deutschen Dichterfürsten, von ihren Konflikten, Problemen und Hoffnungen ergibt. Das Buch ist mit einer umfangreichen Literaturliste ausgestattet und enthält auch ein Personenverzeichnis zum gezielten Suchen. Besonders erfreulich ist die Fülle an Fotos der intellektuellen Szene in Sanary, die man so konzentriert an einer Stelle noch nie gesehen hat. Manche Fotos dürften überhaupt zum ersten Mal abgedruckt sein. Das ist ein großes Verdienst der Autorin.
Soweit alles perfekt.
Wenn da nicht einige Fehler wären, die ein aufmerksames Lektorat nicht hätte übersehen dürfen. Es verwundert mich schon, dass sich ein Verlag, der sich “Wissenschaftliche Buchgesellschaft” nennt, offenkundig ein Lektorat erspart hat.
Die gröbsten Schnitzer:
The Great Gatsby
“Das Bild der feiernden ,,Lost Generation" am Mittelmeer ist nirgendwo so eindrucksvoll festgehalten worden wie in Fitzgeralds an der Côte d'Azur spielenden Romanen The Great Gatsby (1925) und Tender is the Night (1934).” (S.52)
Fitzgerald hat zwar Teile (!) von The Great Gatsby tatsächlich an der Riviera geschrieben, aber vom Mittelmeer ist im Roman nirgendwo die Rede und wer ihn auch nur oberflächlich gelesen hat weiß, dass er an der Ostküste der USA spielt und die nicht immer ganz so feine Gesellschaft der Ostküsten-WASP zum Thema hat.
Über Sybille Bedford (damals: Sybille Aleid Elsa von Schoenebeck) heißt es:
Sie war in Deutschland geboren worden, hatte in England ein Internat besucht, anschließend mit ihrer morphinsüchtigen Mutter Lisa Marchesani, geborene Elisabeth Bernhardt, in Italien gelebt und war Mitte der 1920er-Jahre aus Zufall in Sanary gestrandet,... (S.61)
Das ist definitiv falsch. Sybille Bedfords Mutter wurde erst Anfang 1930 morphiumabhängig, vier Jahre nach ihrem Eintreffen in Sanary, wie Sybille Bedford in ihrem autobiographisch geprägten Buch Treibsand schreibt. Auch die Reihenfolge Internat in England, dann Aufenthalt in Italien ist falsch.
Überhaupt hat die Autorin Probleme, die Bücher von Sybille Bedford auseinanderzuhalten:
Vor allem die autobiografischen Romane Zeitschatten, Treibsand und Rückkehr nach Sanary, veröffentlicht unter ihrem späteren Namen Sybille Bedford, zeichneten ein getreues Bild der wechselnden Protagonisten des Ortes [Sanary] und der sich wandelnden politischen Situation von 1926 bis 1940. (S.61f)
Zeitschaften und Rückkehr nach Sanary sind Übersetzungen des gleichen Romans: Jigsaw. An Unsentimental Education aus dem Jahr 1989.
Auch werden die Romane widersprüchlich datiert. So heißt es auf S. 156
...und den autobiografischen Romanen Zeitschatten (1989) und Treibsand (2005) von Sybille Bedford verdankt man heute die ausführlichsten Sanary-Beschreibungen der Exiljahre.
Im Anhang wird dann Zeitschatten mit 1992 und Treibsand mit 2011 angegeben. Einem Lektorat hätte das auffallen müssen.
Im Übrigen wird die Rolle, die Sybille Bedford für die deutschen Künstler angeblich spielte, deutlich überschätzt.
Ebenso wie Julius Meier-Graefe in Saint Cyr waren Sybille von Schoenebeck und René Schickele in Sanary Wegbereiter, allen voran für Thomas Mann. (S.90)
Für René Schickele mag das sicher stimmen, für Sybille Bedford eher nicht. Was immer man unter Wegbereiter verstehen mag. Für diese Rolle war sie einerseits zu jung - geboren 1911 - und andererseits zu wenig anerkannt in der deutschen Exilantenkolonie. Die einzige Rolle, die Sybille Bedford jemals für Thomas Mann spielte, war nach ihren eigenen Angaben die unbedankte Transporteurin seines Hundes - Jahre später in den USA.
Schade für das Buch. Dennoch ist es lesenswert, wenn das Thema Exilliteratur interessiert.
Ob es mit “Das flüchtige Paradies: Deutsche Schriftsteller im Exil an der Côte d‘Azur” von Manfred Flügge mithalten kann, werde ich demnächst überprüfen.
Magali Nieradka-Steiner: Exil unter Palmen. Deutsche Emigranten in Sanary-sur-Mer.
Theiss Verlag Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, 2018.
Tipps zur Geschichte des deutschen Exils in Sanary findet man in diesem SPIEGEL-Artikel von 2005:
Sanary-sur-Mer. Paradies wider Willen
https://www.spiegel.de/reise/europa/sanary-sur-mer-paradies-wider-willen-a-376898.html
Eine Broschüre des lokalen Tourismusbüros zum gleichen Thema kann man hier online einsehen:
Exil in Sanary-sur-Mer (Deutsch!)
https://de.calameo.com/read/0060437613243e4670d8d