Donnerstag, 25. November 2021

Mein Dorf ist mehr als Berlin

 
Juli Zeh: Über Menschen. Roman. Luchterhand, München 2021, 416 Seiten, 22 Euro.

Vielen Kritikern (siehe die Zitate beim Perlentaucher) gefiel das klischeehafte, “menschelnde” in dem Roman nicht, und ich kann dem in gewisser Weise folgen. Ist das wirklich eine Zeitdiagnose oder ein Märchen, habe ich mich beim Lesen öfters gefragt.
 
Noch weiter geht Julia Encke in ihrer Besprechung, wenn sie von der ”Verdorfung” der jüngsten deutschen Literatur spricht und am Beispiel von Juli Zeh kritisiert:
„Über Menschen“ ist voller eigentümlicher, für die neu Dazugezogene geradezu exotischer Menschen, die ihr Herz aber natürlich alle am rechten Fleck haben. Denn das gehört zur DNA der neuen deutschen Dorfliteratur: die Knorrigkeit der Dorfeinwohner, die gern beim Vornamen genannt und in ihrer Eigentümlichkeit detailliert beschrieben werden wie besonders interessante Zirkuspferde." 
Seltsamerweise (oder vielleicht doch eher “typisch”?) wird aber die von Juli Zeh thematisierte Überheblichkeit des städtischen Akademikerproletariats in der Berliner Kreuzberg- Idylle gegenüber dem Leben in der Provinz bei vielen Rezensenten stillschweigend übergangen. Im Roman erkennt die Stadtmenschin Dora, eine gut im Berliner Milieu vernetzte Werbetexterin (nicht “Senior Copywriter”, wie sie betont) in einer angesagten Berliner Agentur und verbandelt mit einem aktivistischen Zukunftspessimisten, der die Welt spätestens seit der Corona-Pandemie auf den Untergang zusteuern sieht, dass die Menschen auf dem Land nur anders gestört sind als die in der Stadt, und dass es Probleme auf dem Land gibt, die sich ein bornierter Hauptstädter nicht mal albträumend vorzustellen wagt: 
Kaum zu glauben, dass sich ein stinkreiches Land Regionen leistet, in denen es nichts gibt. Keine Ärzte, keine Apotheken, keine Sportvereine, keine Busse, keine Kneipen, keine Kindergärten oder Schulen. Keinen Gemüseladen, keinen Bäcker, keinen Fleischer. Regionen, in denen Rentner nicht von der Rente leben können und junge Frauen Tag und Nacht arbeiten müssen, um ihre Kinder zu versorgen. In solchen Gegenden stellt man dann noch eine Menge Windräder ab, verbietet den Pendlern den Diesel, versteigert die Felder der Bauern meistbietend an Investoren, will Menschen, die sich kein Erdgas leisten können, die Holzöfen wegnehmen und denkt lautstark darüber nach, auch noch Grill und Lagerfeuer zu untersagen, an denen die letzten Reste von Freizeitgestaltung stattfinden. Ansonsten erwartet man, dass alle klaglos funktionieren. Wer aufbegehrt, wird verunglimpft, als dummer Bauer, als Irgendwas-Leugner oder gleich als Demokratiefeind.
Irgendwie, denkt Dora, hat Deutschland die AfD beim Universum bestellt und bekommen. (218)
Sind da am Horizont schon amerikanische oder französische Verhältnisse zu erkennen? Eine gesellschaftliche und politische Spaltung wie in Frankreich zwischen Paris und der Provinz oder in den USA zwischen Ostküste und “Fly-over-Staaten”? Die Antwort bleibt (noch) offen.

Landleben ist schön, macht aber viel Arbeit, lautet auf jeden Fall die Erkenntnis für die Städterin und die Leser.
Der “Roman einer Konversion” ist gut erzählt, manchmal spannend, stellt einige Gewissheiten in Frage und auch deshalb lesenswert. 

Spoiler:
 Der Dorfnazi überlebt den Roman nicht. Das hat natürlich den Vorteil für die Autorin, dass sie nicht weiter ausführen muss, wie es denn mit Dora und ihm weitergegangen wäre. ;-)


Rezensionen

Sammelrezension beim Perlentaucher: Klick

Deutschlandfunk Kultur
Der erste echte Corona-Roman. Von Jörg Magenau

Katja Weise: "Über Menschen" von Juli Zeh: Wankende Weltbilder
 
Die Verdorfung der Literatur
Von Julia Encke

 

Samstag, 13. November 2021

Eine Frau wird alt

Ein Buch über das physische und soziale Altern und das Sterben
Und ihm schien, dass sie niemals leichtfertig abgetan werden durfte, die Einsamkeit am Grund eines jeden Lebens, und dass die Entscheidungen, die die Menschen trafen, um dieser klaffenden Schwärze zu entgehen, Entscheidungen waren, denen Respekt gebührte; das galt für Jim und Helen, und für Margaret und ihn ganz genauso.

Elitabeth Strout hat ein Buch geschrieben, das von den Mühen und Plagen des Alters, von Einsamkeit, Liebe und Lust und vom sozialen und physischen Tod erzählt. Wer diese Themen lieber meidet, sollte das Buch nicht lesen. 
Es ist eine Fortsetzung des Romans “Mit Blick aufs Meer“ (deutsch: 2010), der unter dem englischen Buchtitel “Olive Kitteridge” mit der immer beeindruckenden  Frances McDormand als Miniserie für HBO verfilmt wurde und auch in Deutschland vom 3. bis zum 24. Februar 2015 auf Sky Atlantic HD zu sehen war. (Und auf DVD erhältlich ist!)

Olive ist eine übergewichtige, hemdsärmelige, pensionierte Mathematiklehrerin, die der Schreck fast aller Schüler war. Sie panzert sich mit Distanz und Abwehr, steckt voller Vorurteile über die Unzulänglichkeiten ihrer Mitmenschen, ist aber dennoch hier und da bereit einen Schritt zurückzutreten und ihre Meinung zu ändern. Meistens fällt dieser Nervensäge das sehr schwer.
Zu Beginn der Episoden ist sie vierundsiebzig Jahre alt und lebt mit ihrem zweiten Mann zusammen, zum Schluß ist sie dreiundachtzig und einsame, doppelte Witwe. Manchmal lernen wir Sie aus der Perspektive ihrer Mitmenschen kennen, dann wiederum werden wir in ihre Gedankenwelt eingeführt, fühlen mit und sind irritiert über ihr Verhalten. Über allen Geschichten schwebt aber der Geist Olives wie eine ordnende Macht. 

Die Geschichten, die Elizabeth Strout um diese schrullige Frau erzählt, sind immer erfahrungsgesättigt und bewegend, aber auch distanziert und analytisch. So wie schon in dem Vorgänger “Mit Blick aufs Meer”. Und so lieben wir es.

Eine Abschweifung


Elizabeth Strouts Kitteridge-Romane handeln auch von Maine, von der Schönheit des Landes und der Schrulligkeit ihrer Bewohner.
Ich kenne Maine nicht, aber der amerikanische Schriftsteller Richard Ford kennt Maine ziemlich gut und hat in einer seiner Geschichten* aus “Irische Passagiere” über die Bewohner geschrieben:
Mae war nie begeistert von den Menschen in Maine. “Kein Strom, kein fließend Wasser, scheiß in ein Loch und fick deine Schwester, so mögen die das”, hatte Mae gesagt. [...] 
Zuerst das Tor zum Mädchencamp, dann die Müllkippe, das Dollar-General-Kaufhaus, die Ladenzeile mit den pleitebedrohten Einzel- und Großhandelsfirmen, Autoschrottplätze, Mokassin-Outlets, dazu das gleichförmige Siedlungsschema von Maine - aufgebockte Bootswracks, Haufen aus Fallen und Bojen, Holzspaltmaschinen und Nissenhütten aus Zeltplane - und wirklich jeder mit einem aufgebockten Truck, einer zerborstenen Pflugschar, einem Geländemotorrad und einem Hund. Wenn das Meer außer Sicht war, entsprach Maine Michigan, nur ohne Humor. Und nach dem Kolumbus-Tag nahmen es die Mainer wieder komplett in Besitz. In den Läden ging das Licht aus, Restaurants wurden verrammelt und verriegelt, die Ortsansässigen ignorierten einen, wenn man in den Graben fuhr, und Ferienhäuser, die nicht einbruchsicher waren, wurden zu Meth-Labs umfunktioniert oder abgefackelt oder beides. Der Sheriff nahm sich frei.” [...] “Man kostete seinen Groll aus. Jeder war bewaffnet.” (141f)
Das hilft vielleicht, Olive Kitteridge noch besser zu verstehen, oder?

*Richard Ford, Irische Passagiere. hier: Der Lauf deines Lebens 

Rezensionen

Elizabeth Strout: „Die langen Abende“. Eine schrullige Heldin wird altersweise
Von Michael Watzka Deutschlandfunk 
 

Sonntag, 7. November 2021

Der Winter der Literatur



   Die Totengräber. Der letzte Winter der Weimarer Republik war der Titel des 2018 erschienenen Buches von Rüdiger Barth und  Hauke Friederichs, das hier besprochen habe. Im Anschluss daran habe ich eine Neuerscheinung gelesen, die schon im Titel Ähnlichkeiten und Differenzen zum Vorgänger aufweist: Uwe Wittstock: Februar 33. Der Winter der Literatur.

   Nur wenige Tage überschneiden sich die beiden Chronologien, aber die Themen und handelnden Figuren sind andere. Standen im Buch von Barth/Friedrichs noch die hohe Politik und einige Randfiguren im Mittelpunkt des Interesses, so sind es jetzt Schriftsteller wie Berthold Brecht, Carl Zuckmayer, Oskar Maria Graf, Ernst Toller, Heinrich und Thomas Mann und Schriftstellerinnen wie Else Lasker-Schüler, Erika Mann, Mascha Kaléko und Ricarda Huch, an deren Schicksal in den Tagen von Ende Januar bis 15. März 1933 wir Anteil nehmen können. 

   Die “Machtergreifung” der Nazis am 30.Januar wird schnell organisatorisch umgesetzt und abgesichert. An wichtige Schalthebel der Macht, Innenministerien, Polizeibehörden in Preußen und im Reich sitzen jetzt bekannte Nazis, die sofort gegen politische Gegner vorgehen, gedeckt durch die sogenannte Reichstagsbrandverordnung, die willkürliche Wohnungsdurchsuchungen und Verhaftungen ermöglichte. Knapp einen Monat nach der Machtergreifung werden linke Schriftsteller wie Erich Mühsam, Carl von Ossietzky, Egon Erwin Kisch, Ernst Toller und viele andere verhaftet und im Polizeipräsidium eingelocht. 

   Wir werden konfrontiert mit ihren Ängsten und Hoffnungen, verzweifelten Versuchen zu retten, was nicht mehr zu retten war. Nur wenige sahen trotz allem hoffnungsvoll in die Zukunft, so zum Beispiel Heinrich Simon, Chefredakteur der Frankfurter Zeitung, der am 1. März noch der Überzeugung war, ”dass die Nazis keine Chance haben, jemals in Süddeutschland, in Württemberg, Baden und Bayern Fuß zu fassen. Die ‹Mainlinie wird halten›, sagt er, da ist er sicher” (S.213). Viel sind zu diesem Zeitpunkt schon auf der Flucht oder treffen Vorbereitungen dafür, weil man nach ihnen sucht, weil ihre Wohnungen zerstört wurden oder weil man einfach dem Terror entfliehen wollte.

   Die Eintragungen enden für jeden Tag mit Schlagzeilen zu politischen Anschlägen und Schießereien im gesamten Reichsgebiet und es wird dem Leser drastisch vor Augen geführt, in welch verzweifelter Situation sich Gegner der Nazis bereits wenige Tage nach dem 30. Januar befanden und wie sehr die Situation eskalierte. Aber nicht nur Nazis griffen zu den Waffen, auf der Linken war man ebenfalls bereit, mit Waffengewalt den politischen Gegner zu bekämpfen.
Ab und zu finden sich auch  Hinweise auf die Grippewelle in jenen Tagen, die sicher nicht zufällig im Jahr der Corona-Pandemie ihren Weg in das Buch gefunden haben.

   Immer wieder finden sich Einträge zur Situation in meiner zweiten Heimatstadt Darmstadt, wo am Landestheater der berühmte Intendant Gustav Hartung arbeitet, der - letztlich erfolglos - versucht, dem Terror der Nazis (und dem Druck des Stadtrats) Widerstand entgegen zu setzen, und der am 1. März, also noch vor den letzten Reichstagswahlen, schreibt: “die Atmosphäre in der Stadt ist derart aufgeheizt, dass keine ruhige Probenarbeit mehr möglich ist”. Umstrittene Stücke mussten bereits abgesetzt werden. (Mehr zu Gustav Hartungs Rolle in Darmstadt findet man im Darmstädter Stadtlexikon.)
   
Für jemanden wie mich, der die Gnade der späten Geburt genießen kann, sind die Berichte aus den letzten Tagen der Weimarer Republik ergreifend, bedrückend und mahnend zugleich.

Uwe Wittstock, Februar 33. Der Winter der Literatur
C.H. Beck Verlag, München 2021 ISBN 9783406776939
Gebunden, 288 Seiten, 24,00 EUR

Rezensionen

Rezensionsübersicht beim Perlentaucher

Deutschlandfunk Kultur Podcast:
Chronik einer angekündigten Katastrophe
Moderation: Andrea Gerk