Dienstag, 15. August 2017

Vier mal Frankreich: von Unten, von der Mitte und von Oben

Präsidentschaftswahl 2017 1.Wahlgang - NF/Le Pen: Dunkelblau


Im Juni 2017 scheint vieles klarer zu sein: Bei den Wahlen zur Nationalversammlung erreichte der rechtsextreme Front National nur 8 Mandate, das waren zwar 6 mehr als noch bei der letzten Wahl, aber mit 8,8% der Stimmen weit weniger als man nach den Präsidentschaftswahlen (Le Pen: 33,9% im 2. Wahlgang) und den Regionalwahlen im Dezember 2015 (ca. 28% im 1. Wahlgang) befürchten musste.


Links dazu:
FAZ 13.12.2015: Herbe Niederlage für Front National von Michaela Wiegel, Paris
Wikipedia: Präsidentschaftswahl in Frankreich 2017
Wikipedia: Parlamentswahl in Frankreich 2017


Ist also alles in Ordnung in Frankreich?
Ich habe im Vorfeld der letzten beiden Wahlen 4 Bücher gelesen, die ich vorstellen möchte. Es sind Bücher, wie ich sie gerne lese, weil man sie auch als klassische Milieustudien verstehen kann. Dafür sehe ich es auch mal nach, wenn sie erzählerisch nicht so viel hergeben.
Vielleicht helfen sie aber die Lage besser zu verstehen.



In der Reihenfolge ihres Erscheinens:


Montag, 14. August 2017

Jérôme Leroy: Der Block

Klappentext
Blutige Aufstände in den französischen Vorstädten, die Zahl der Toten steigt unaufhörlich. Die Partei der äußersten Rechten - der Patriotische Block - steht kurz vor dem Einzug in die Regierung. In dieser Nacht kann das Schicksal Frankreichs kippen, und sie ist für drei Menschen der Höhepunkt einer 25-jährigen Geschichte aus Gewalt, Geheimnissen und Manipulation. Agnès führt als Parteivorsitzende die Verhandlungen. Ihr Ehemann Antoine wartet in seiner luxuriösen Pariser Wohnung auf das Ergebnis, Stanko, der Chef des paramilitärischen Ordnerdienstes der Partei, versteckt sich in einem schäbigen Hotelzimmer. Antoine ist morgen vielleicht Staatssekretär - Stanko jedenfalls soll morgen tot sein. Ein Vierteljahrhundert lang waren die beiden wie Brüder. Ein Vierteljahrhundert lang waren sie bei allen Aktionen dabei, die den Patriotischen Block an die Macht gebracht haben. Ein Vierteljahrhundert lang sind sie vor nichts zurückgeschreckt. Sie haben dieses Leben geliebt, und sie bereuen nichts.
Da fast alles schon von anderen gesagt und geschrieben wurde, hier einige Zitate zum Buch:

SWR2 DIE BUCHKRITIK Jérôme Leroy: Der Block. Rezension von Diyna Netz:
“Ein kleiner Schönheitsfehler ist, dass Nautilus das Buch als Kriminalroman vertreibt. Wer einen klassischen Who-Done-it-Krimi erwartet, dürfte allerdings enttäuscht werden. Zwar erzählt Stanko, während er auf seine Mörder wartet. Im Mittelpunkt des Romans stehen aber ganz klar das Gesellschaftspanorama und das Psychogramm der beiden Männer.” [...]“Jérôme Leroys Roman „Der Block“ ist ein echtes Wagnis: Leroy erzählt aus der Perspektive zweier absolut unheimlicher, gewalttätiger Männer, die einer rechtsnationalen Partei angehören. Und indem er sie menschlich macht, mit einer Familiengeschichte, Fehlern und Schwächen ausstattet, begibt er sich auf eine Gratwanderung: Die Unsympathen kommen einem fast nahe.”

Zwei Protagonisten

Aus einem Interview mit Leroy:
"Die beiden Erzähler zeigen zwei Typen, die man in extrem rechten Bewegungen findet: Die Intellektuellen Bürgerlichen, die sich radikalisieren und auf der anderen Seite harte Aktivisten und Skins, die fürs Grobe und Gewalttätige gebraucht werden." 
Interviewauszug Leroy radioeins rbb Die Literaturagenten, ab 4’:40’’ 
SWR2 DIE BUCHKRITIK Jérôme Leroy: Der Block. Rezension von Diyna Netz:
“Antoine ist ein Intellektueller, er war Lehrer, hat vor seiner Parteikarriere Bücher veröffentlicht. Aber es gab immer auch schon diese andere Seite an ihm, die Faszination für das Brutale. Trotzdem ist er nicht nur zum „Block“ gekommen, um gelegentlich Linke zu verhauen. Antoine geht es tatsächlich um den Sturz der althergebrachten Parteien, die er als zahnlos und nur um ihre eigenen Pfründe bemüht wahrnimmt. Stanko ist Antoines Schützling gewesen, ein orientierungsloser Skin, der dank Antoine zum stellvertretenden Sicherheitsbeauftragten des „Block“ aufgestiegen ist. Jahrelang hat er eine höchst effiziente Schlägertruppe befehligt, die viele Probleme der Partei auf ihre Weise gelöst hat und die Stanko nun – Ironie des Schicksals – selbst den Garaus machen soll. Die Liste der Gewalttaten im Buch ist übrigens ziemlich lang, auf ein paar Schlägereien hätte man durchaus verzichten können.” (leider nicht mehr online)

Erzählperspektive

Der Kriminalroman „Der Block“ und der Film „Chez nous“ sagen viel über Frankreich FAS 05.03.2017, von Annabelle Hirsch und Peter Körte
"Leroy hat sich für eine klassische Struktur entschieden: die des Dramas mit der Einheit von Zeit, Ort und Handlung. Mit der kleinen Variante, dass aus zwei Perspektiven erzählt wird: Stanko, der Chef des Sicherheitsdienstes des Blocks, spricht in der ersten Person Singular. Antoine, der rechtsdrehende Intellektuelle und Ehemann von Agnès, in der zweiten, in einer Art Zwiegespräch mit sich.”


Wie ich das Buch lese - Leroy und Houellebecq im Vergleich


Eine Gegenüberstellung von Personen und Konstellation des Buches von Leroy und dem von Houellebecq liegt nahe, behandeln sie doch beide das gleiche Thema: die Machtübernahme durch eine radikale Partei.


Houellebecq - Leroy: Ausgangslage

Auf den ersten Blick könnte die politische Situation nicht unterschiedlicher sein.
Bei Leroy die Chance für die Rechtskonservativen mit Hilfe der Rechtsextremen an die Macht zu kommen: Jede Nacht steigt  bei innenpolitischen Kämpfen die Zahl der Toten, die Linke hat politisch abgewirtschaftet ist und stellt nur noch eine lächerliche Karikatur ihrer einstigen Größe dar. Die dargestellte Situation gleicht dem Zustand Deutschlands um die Jahreswende 1932/1933, als die NSDAP mit Hilfe des Steigbügelhalters von Papen an die Macht gelangte und, das wäre jetzt allerdings eine Prognose für eine vergleichbare Situation in Frankreich, mit den Rechtskonservativen sehr schnell Schluss machte.

Bei Houellebecq dagegen erfolgt die Machtergreifung durch die Muslimbruderschaft mit Hilfe der Linken - eine Konstellation, die selbst Houellebecq im Augenblick für extrem unwahrscheinlich hält.* Aber im Hintergrund wartet der FN auf seine Chance in eine Situation zu kommen, wie Leroy sie beschreibt. 
Bei Houellebecq gibt es kein Entrinnen aus dem fatalen Dilemma zwischen extrem Rechts und Muslimbruderschaft, bei Leroy besteht immer noch die Chance, dass das rechte Bündnis scheitert und sich neue politische Konstellationen ergeben können.
*MICHEL HOUELLEBECQ „Eine islamische Partei ist eigentlich zwingend“. Von Silvain Bourmeau | Veröffentlicht am 03.01.2015

Houellebecq - Leroy: Protagonisten

Bei der Wahl der Protagonisten gibt es deutliche Unterschiede zwischen beiden Büchern. Bei Houellebecq ist es der weiche, intellektuelle Francois, ein versponnener Einzelgänger, der vor allem am Lebensgenuss interessiert ist, aber gewaltlos und politisch wenig interessiert und gleichgültig sein Leben lebt, so lange es gute Restaurants und willige Sexualpartnerinnen für ihn gibt.

Leroys Antoine dagegen ist mehr zynischer Dandy als machtbesessener Ideologe. Einst ideologisch und kulturell nach allen Seiten offen, ist er beim Faschismus hängen geblieben, denn er verachtet die Schwäche der Linken. Er hasst die ’kleinen Möchtegern-Päpste der kulturgeilen Kaviar-Linken’ (S.10), das politische Chaos, das sie zu verantworten haben und den ‘Konsumismus’, den die gesamte französische Gesellschaft durchzieht (S.180fff). Ihn reizt Gewalt per se, wie sie einen Hooligan reizt, mit nahezu pathologischen Zügen seit seiner Kindheit in einer wohlbehüteten Familie eines Augenarztes (S.47). 
Die nie versiegende Quelle seines Engagements bei der extremen Rechte ist die Macht, die er verspürt, wenn die Aura von Brutalität, die seine Person ausstrahlt, sich als Hass und nackte Angst in den Augen einer jungen Araberin widerspiegelt (S.11). Er ist mehr an Testosteron als an Ideologie interessiert - und natürlich an Agnès, der Führerin des ‘Blocks’.

Auch zu Diedier Eribon und Édouard Louis könnte man eine Parallele ziehen: Stanko, der Underdog und Schläger, stammt aus dem gleichen Milieu wie Didier und Eddy und er teilt die politische Einstellung des Milieus: 


(S.76)


Der soziale Aufstieg erfolgt jedoch nicht durch Anpassung an die herrschende Kultur und Übernahme ihrer Werte sondern durch Ausspielen der spezifischen Eigenschaften, die man seiner Klasse nachsagt, Gewalt und Brutalität, und durch Auslieferung seines Lebensentwurfs  an den Intellektuellen Antoine, der im Hintergrund die Strippen zieht, die letztlich für Stanko zum Tode führen.  


Leroy - Houellebecq:  Kulturpessimismus und Konversion 

Trotz aller Gegensätze beim Setting und den handelnden Personen, gibt es zwei Übereinstimmungen zwischen Antoine und Francois: Es ist ihr Kulturpessimismus und die Bereitschaft zu konvertieren, illustriert an 2 Zitaten von Leroy:
Antoine:  "Ich sage Ihnen das im vollen ernst: Wenn es dem Block nicht gelingt, in den kommenden Jahren oder Monaten an die Regierung zu kommen - und da ich mir keinen Chip einpflanzen lassen will, denn am Ende werden sie sich auch die Alten wie uns vornehmen, Sie werden schon sehen, jene, die sich noch an die Welt davor erinnern, die noch Zeugnis ablegen können,- dann konvertiere ich zum Islam und ziehe nach einer Ausbildung in einem Al-Qaida-Trainingscamp in den Kampf im Sudan oder anderswo. Dann kann mir die Zivilisation der lebenden Toten gestohlen bleiben!" (S.188)[...]  
„Du fragst dich in dieser Nacht wirklich, was eher deinen Respekt oder dein Opfer verdient: eine Gesellschaft, in der neun von zehn Paaren, wenn sie aus dem Kino kommen, zuerst ihr Handy wieder einschalten, bevor sie miteinander sprechen oder eine Gesellschaft, in der eine junge, verschleierte Frau fähig ist, sich an einem Grenzposten selbst in die Luft zu jagen, im Namen ihres Volkes und ihres Glaubens?“ (S.189)
Francoise hätte es bei Houellebecq nicht besser ausdrücken können.


Resümee

Leroy und Houellebecq thematisieren komplementäre Dystopien: Peripherie vs. Zentrum; Rechte Koalition vs. Muslimisch-Links; Gewalt vs. Überredung, Überwältigung vs. Unterwerfung - mit Überschneidungen bei den Hauptprotagonisten: Ablehnung des derzeitigen Zustandes der liberalen Gesellschaft. Die Einen aus Verachtung, die Anderen als Resultat der Hilflosigkeit angesichts der sozialen Veränderungen.

Leroy zeigt, wie rechte Machtübernahme mit Hilfe der Konservativen als Steigbügelhalter funktioniert  und Houellebecq wie es komplementär mit der Linken als Steigbügelhalter einem politisch organisierten Islam gelingen könnte. 

Dennoch fühle ich mich beim Gedanken, dass es zu einer Situation kommen könnte, wie Houellebecq sie beschreibt unwohler als im gleichen Fall bei Leroy.
Eine extreme Rechte wird immer die Linke und die Liberalen, vielleicht auch die gemäßigten Konservativen als Gegner haben. Man wird auch mit sozialem Widerstand durch die Gewerkschaften gegen eine rechte Machtergreífung rechnen können. ‘Paris’ als Metapher für die politische und intellektuelle Klasse des Zentrums Frankreichs wird ebenfalls kaum ein erfolgreiches Pflaster für die extreme Rechte werden, wie die letzten Wahlen zeigten. 

Im anderen Fall sieht es vermutlich düsterer aus: Eine ‘Machterschleichung’ durch einen politisch organisierten Islam halte ich zwar wie Houellebecq für wenig realistisch, aber prinzipiell für gefährlicher. Wer würde sich ihm entgegenstellen? Der katholische Konservatismus wird sich vermutlich arrangieren, und die Rechte? Wird sie die Provinz gegen die Muslimbruderschaft in Bewegung setzen können? Ich habe da meine Zweifel wenn das ökonomische Szenario Wirklichkeit wird, das Houellebecq beschreibt.

Hoffen wir, dass es niemals zu einem der beiden Szenarien kommt. Der einzige Ausweg wäre vermutlich Auswanderung. 

Verweise / Links:


Jérôme Leroy im Interview bei Edition Nautilus (PDF)

Jérôme Leroy: Der Block.  Rezension von Dina Netz, SWR2 Die Buchkritik. Manuskript (leider nicht mehr online)

Kritisch: Französischer Thriller mit großer Aktualität. Von Antje Deistler DLF 19.4.2017

"Wegen der Möse einer Frau Faschist geworden". Von Marcus Müntefering, Spiegel Online

Frankreich vor der Wahl Ein Albtraum wird wahr. Von Annabelle  Hirsch und Peter Körte, FAZ 5.03.2017

„Der Block“ von Jérôme Leroy: Die Zukunft wird mit Blut geschrieben. Von Werner Van Bebber. Der Tagesspiegel vom 20.04.2017

Krimi und Rechtspopulismus - Sprache der Gewalt. Von Alex Rühle SZ 3.4.2017

Reise ans Ende der Nacht. Von Christian Bommarius  FR 21.04.2017


Sonntag, 6. August 2017

Michel Houellebecq: Unterwerfung




Auszug Klappentext:

Houellebecq “erzählt in >Unterwerfung< die Geschichte des Literaturwissenschaftlers François. Der Akademiker forscht im Frankreich einer sehr nahen Zukunft zu dem dekadenten Schriftsteller Huysmans, der ihn sein Leben lang fasziniert. Zugleich verfolgt er die Ereignisse um die anstehende Präsidentschaftswahl: Während es dem charismatischen Kandidaten der Bruderschaft der Muslime gelingt, immer mehr Stimmen auf sich zu vereinigen, kommt es in der Hauptstadt zu tumultartigen Ausschreitungen. Als schließlich ein Bürgerkrieg unabwendbar scheint, verlässt François Paris ohne ein bestimmtes Ziel. Es ist der Beginn einer Reise in sein Inneres.” Und, so muss man ergänzen, die damit endet, dass Francois zum Islam konvertiert, denn das Angebot ist einfach zu verlockend.”

Francois ist Literaturprofessor mit Spezialgebiet Huysman und fest im Leben verankert: Gutes Essen, viel Alkohol, abwechslungsreicher Sex stehen im Mittelpunkt seines Lebens. Die Arbeit im Seminar der Universität sorgt zuverlässig jedes Jahr für Nachschub an jungen Sexualpartnerinnen. Mental eher antriebslos und passiv, schlurft er gleichgültig durch seinen Alltag. Sein Äußeres darf man sich durchaus als eine Kopie von Houellebecq vorstellen.
Nervig sind für ihn allenfalls die Anmaßungen der Bürokratie. Nichts ist für ihn schwerer zu erledigen als ein Versicherungsformular ausfüllen zu müssen.

Aber die politischen Verhältnisse im Jahr 2022  sind schwierig. Bei der Wahl des Staatspräsidenten stehen sich der Front National und die Muslimbruderschaft gegenüber. Die Linke und die Konservativen schlagen sich auf die Seite der Muslimbruderschaft, um den Sieg der Rechten zu verhindern. Außerdem locken bei den politischen Muslimen mehr Vorteile. 

Der Kandidat der Muslimbruderschaft, “wohlgenährt und heiter”, einst Absolvent der französischen Kaderschmiede ENA,  gewinnt im 2. Wahlgang. Der Umbau der Gesellschaft erfolgt prompt und absolut gewaltlos durch Kauf der intellektuellen, akademischen Elite -  und wenn man sie nicht kaufen kann, entlässt man sie in die gute bezahlte Altersfreizeit. Für die Finanzierung sorgen die Saudis mit unerschöpflichen Geldmitteln.
Die Unterwerfung unter die Scharia wird erwünscht, aber nicht erzwungen. Zur Not werden in der Gesellschaft islamische Parallelstrukturen aufgebaut und gefördert, so bei Schulen und Universitäten. Die Anpassung an die neue herrschende Kultur ist zwar unumgänglich, hat aber auch sehr schöne Seiten für Männer: Man darf sich eine jüngere Frau (gerne auch mehrere) für die Freuden des Lebens wählen und eine ältere für die Herausforderungen des Alltags (Kochen, Kindererziehung). Dafür erhält man eine höchst zufriedenstellende staatliche Apanage. Zur Finanzierung streicht der Staat alle Sozialleistungen und verweist auf die Familie als alleinige Instanz zur sozialen Absicherung. Frauen werden aus der Arbeitswelt gedrängt, jüngere Männer übernehmen deren Plätze, der industrielle Niedergang wird durch Förderung von Handwerk und Kleingewerbe kompensiert. Die Arbeitslosigkeit sinkt dramatisch. Leider sieht man auf den Straßen keine Sexualobjekte mehr. Dennoch konvertiert am Ende auch Francois.


Wie lese ich diesen Roman? 


Für mich steht im Zentrum der Kritik Houellebecqs das opportunistische Verhalten nicht nur der Linken und der Sozialdemokraten, sondern der Opportunismus und die Dekadenz der gesamten politischen Klasse und vor allem des intellektuellen/akademischen Milieus, das für das sprichwörtliche Linsengericht alle Werte und Überzeugungen aufgibt und sich den Forderungen des gemäßigten politischen Islams bedingungslos unterwirft. 
“Dabei hätte man, schien mir, durchaus kritische Fragen stellen können: nach der Abschaffung der Koedukation etwa. Oder nach der Tatsache, dass die Lehrer sich zum Islam bekennen sollten. Aber war das bei den Katholiken nicht ähnlich? Musste man nicht getauft sein, um an einer christlichen Schule zu unterrichten?” [...] Es gab ein paar Zweifel allgemeiner Art, aber vor allem das Gefühl, dass da nichts war, worüber man sich aufregen müsse, nichts wirklich Neues.” (S.96)
Mit Geld und dem Versprechen auf Polygamie plus Karriere kann man sie alle kaufen. Materielle Anreize statt Druck ist die Methode der Muslimbruderschaft. Selbst ein Vertreter der extrem rechten ‘Identitären’ (Rediger), erliegt den Verlockungen und übt sich erfolgreich in geschmeidiger Anpassung, ein typischer Wendehals. Indifferente, abseitsstehende Hochschullehrer und Intellektuelle kann die neue Regierung mundtot machen, indem sie ihnen eine freiwillige Kündigung, versüßt durch eine außergewöhnlich hohe Pension, nahelegt, die das tägliche gute Essen garantiert und sonst nichts verlangt.

Damit liegt für mich die Sprengkraft der Kritik Houellebeqcs in der deutlichen Kritik an de Politik der Linken, die sich in der Fixierung auf die Nationale Rechte lieber mit den Muslimen verbindet als für klassische liberale Freiheitsrechte zu kämpfen. Wer die Ursachen aller Übel in der Welt nur im Neoliberalismus sieht und selbst keine kulturellen Werte mehr vertritt, hat natürlich keinen Blick für die Herausforderungen eines totalitären und radikalisierten Religionsverständnisses. Hier hat Houellebecq einen wunden Punkt getroffen, und deshalb wird er auch von Linken so entschieden bekämpft. Natürlich auch für einen Satz wie diesen:
 “Sehr viele Intellektuelle hatten im Laufe des 20. Jahrhunderts Stalin, Mao oder Pol Pot unterstützt, ohne dass ihnen das jemals ernsthaft zum Vorwurf gemacht worden wäre; der Intellektuelle in Frankreich musste nicht verantwortlich sein, das lag nicht in seinem Wesen.” (S.243) 
Beispielhaft  für die linke Kritik ein Interview mit Eduard Louis:  Édouard Louis: Wenn die Eltern Le Pen wählen. Ein Gespräch in Paris Interview: Elisabeth von Thadden 9. März 2017
Houellebecq sieht aber auch noch eine andere Ursache für den Niedergang  der westlichen Idee von Freiheit und Aufklärung - der Verlust von Spiritualität:
“Ich glaube, es gibt ein echtes Bedürfnis nach Gott, und dass die Rückkehr des Religiösen kein Slogan ist, sondern eine Realität, die uns nun gerade mit erhöhter Geschwindigkeit einholt.” [...] Es gibt ja nicht nur den Islam, der davon profitiert, in Nord- und Südamerika sind es eher die Evangelikalen. Es ist kein französisches Phänomen, sondern beinah ein weltweites. Was Asien betrifft, bin ich nicht sehr informiert, aber der Fall Afrikas ist interessant, denn dort haben die beiden großen religiösen Kräfte Zulauf: Die Evangelikalen und der Islam. Ich glaube nicht, dass eine Gesellschaft ohne Religion halten kann.” [...] Hinter die Philosophie der Aufklärung kann man ein Kreuz machen: verstorben. Ein schlagendes Beispiel: Die verschleierte Kandidatin auf der Wahlliste des linksextremen Politikers Olivier Besancenot, das ist ein perfektes Beispiel für den Widerspruch. Aber es sind ja nicht nur die Muslime, die sich in einer schizophrenen Situation befinden, wenn es um das geht, was man traditionellerweise die Werte nennt. Die Rechtsextremen haben da mehr mit den Muslimen gemein als die Linke. Es gibt mehr fundamentale Widersprüche zwischen einem Muslim und einem atheistischen Laizisten als zwischen einem Muslim und einem Katholiken, das erscheint mir offensichtlich. 
Michel Houellebecq: „Eine islamische Partei ist eigentlich zwingend“ Von Silvain Bourmeau Veröffentlicht am 03.01.2015 
Das Scheitern der Philosophie der Aufklärung und der Verlust an Religion und Metaphysik  ist das entscheidende Movens für die Kritik Houellebecqs. Ein Verlust, den ich nicht empfinde; was das Scheitern der Aufklärung angeht, bin ich mir allerdings nicht so sicher.

Man kann das Buch Houellebecqs auch als eine aktuelle Variante des ‘Verrats der Intellektuellen’ (Julien Benda) lesen. Bendas Kritik an der mangelnden Distanz der Intellektuellen gegenüber dem Stalinismus ersetzt Houellebecq durch die prognostizierte unkritische Haltung der Intellektuellen gegenüber einem politisch organisiertem Islam.

Mir drängt sich eine weitere Parallele in der französischen Geschichte auf, denn der Subtext des Romans könnte auch lauten: Roman einer Kollaboration, und die Parallele bezieht sich auf das Verhalten der politischen Klasse Frankreichs unter der deutschen Besetzung, insbesondere was das akademische Leben in Paris angeht.
So stark die Resistance in Frankreich war, es gibt auch die andere Seite, die der Anpassung, Kollaboration und Duldung der Besatzung, weil die Kulturpolitik der deutschen Besatzer vielen eine Weiterarbeit ermöglichte. Manche Methoden scheint Houellebecq direkt dieser Zeit entnommen zu haben:
"Außer den engagierten Kollaborateuren handelten die meisten Journalisten eher opportunistisch, durch materielle Anreize geködert (während die übrigen Gehälter in Frankreich eingefroren wurden, wurden ihre Bezüge auf Veranlassung der Propagandastaffel verdoppelt) oder aus Feigheit denn aus ideologischen Gründen." 
https://de.wikipedia.org/wiki/Kollaboration_in_Frankreich_(1940%E2%80%931944)#Die_Kollaborations-Presse_oder_.C2.BBKollaboration_der_Feder.C2.AB 
Außerdem ähnelt das Programm der Muslimbruderschaft doch erstaunlich stark dem Programm der Kollaborationsregierung im unbesetzten “Vichy-Frankreich” unter Pétain und Laval: Arbeit, Familie (und: Vaterland).

Houellebecq räumt in einem Interview allerdings ein, dass er eine politische Organisation aller Muslime, in einer einzigen Partei mit Chancen auf eine Mehrheit bei Präsidentschaftswahlen, angesichts ihrer Zersplitterung für wenig wahrscheinlich hält.

Ist ‘Die Unterwerfung’ also nur ein Denkspiel, eine fatale Möglichkeit, Anlass zum kritischen Beobachten der Veränderungen? Ist das frankreichspezifisch oder ein allgemeingültiges Denkspiel? Oder ist es eine Dystopie und - wohin treiben wir, und sind wir nur Getriebene oder rudern wir schon mit?


Verweise:

Wikipedia: Unterwerfung (Roman)

Die Welt: Michel Houellebecq: „Eine islamische Partei ist eigentlich zwingend“
Von Silvain Bourmeau | Veröffentlicht am 03.01.2015

Weitere Rezensionen:

Die Welt: 2022 darf Frankreich endlich sein Gehirn abgeben
Von Tilman Krause | Veröffentlicht am 09.01.2015 

Sascha Seiler: Unterwerfung? Ist die von Michel Houellebecq beschriebene „Unterwerfung“ nur eine ästhetische Spielerei oder entspringt sie einer politischen Vision? Eine mediale Spurensuche

Caroline Mannweiler: Auflösung in die Ordnung. Michel Houellebecqs Roman zur Lage der Nation