Vorbemerkung: Ich habe mir das Buch nicht gekauft, sondern lediglich in einem Buchkaufhaus in Abschnitten gelesen. Ich wollte weder dem Verfasser noch dem Verlag gönnen, auch nur einen Cent dafür ausgegeben zu haben. Wenn Sie das Folgende lesen, werden Sie verstehen, warum.
Was Didier Eribon schon immer auszeichnete, war seine Larmoyanz gegenüber seiner Vergangenheit und der Mangel an aufrichtiger Anteilnahme, etwa am schweren Leben seiner Eltern, insbesondere dem seiner Mutter.
Das wird auch in seinem letzten Buch “Die Arbeiterin” wieder deutlich. Diese Arbeiterin ist nicht irgendjemand, sie ist seine Mutter. Das muss betont werden, weil er aus der Mutter eine Kategorie konstruiert, zu der er keine ethische oder persönliche Beziehung hat. Die Mutter steht für alles, aber nicht für die konkrete Mutter des Sohnes Didier. Eine einfache Tatsache macht dies deutlich: In den sieben Wochen, die seine Mutter im Pflegeheim verbringen musste, hat der Sohn sie nur zweimal besucht. Es gab so viel zu tun in Paris und auf Reisen. Verantwortung des Sohnes für die demente und kranke Mutter? Fehlanzeige.
Eribon hat dann das Wunder vollbracht, aus einem zutiefst schäbigen Umgang mit der eigenen Mutter ein Buch zu machen, das von den Feuilletons gefeiert wird. Der soziale Aufstieg ist ihm wirklich gelungen, da stören die nächsten Verwandten nur noch, sind allenfalls Stoff für literarische Verarbeitung. Geradezu grotesk und zynisch wirkt auf mich dann sein „mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa“
Eribon:
Mittlerweile ist mir bewusst, dass ich zugleich dank meiner Mutter und in Abgrenzung zu ihr der Mensch geworden bin, der ich bin. In meinen Gedanken war das In-Abgrenzung-zu-ihr lange Zeit stärker als das Dank-ihr. Natürlich schäme ich mich seit Langem für all die Beispiele meines Egoismus und meiner Undankbarkeit. Mich schmerzt, wie viel Schmerz ihr mein Egoismus und meine Undankbarkeit zugefügt haben. Doch wie Albert Cohen in Das Buch meiner Mutter schreibt: »Etwas spät«, das schlechte Gewissen. 227
Es war seine Mutter, die täglich in schlecht bezahlten Jobs das Geld aufbringen musste, um ihm den Besuch des Gymnasiums zu ermöglichen. Dankbarkeit des Sohnes? Auch hier Fehlanzeige. Seine angebliche Scham ist nur Pose.
Ich kann gar nicht so viel fressen ...
Eribon hat ein Buch geschrieben, das moralisch bedenklich und soziologisch ein Leichtgewicht ist, trotz einer beeindruckenden Zahl von Verweisen auf andere Autoren und Geistesgrößen, die er gerne und ausführlich zitiert, um seine Überlegungen wissenschaftlich zu untermauern. Böswillig könnte man sagen, dass er auch mit 70 Jahren noch am klassischen Aufsteigersyndrom leidet: “Bin ich wirklich so brillant, wofür mich alle halten?"
Nein, bist du nicht.
Rezensionen
Von den vielen Lobhudeleien hebt sich deutlich Christoph Schröder ab, der in der Diskussion der “SWR Bestenliste Mai 2024, das Buch - ganz in meinem Sinne - zerreißt:
SWR Bestenliste Mai 2024
https://www.swr.de/swrkultur/literatur/bestenliste/swr-bestenliste-20240505-1704-swr-bestenliste-mai-100.html
(Audio-) Link zur Diskussion:
https://avdlswr-a.akamaihd.net/swr/swrkultur/literatur/bestenliste/swr-bestenliste-20240505-1704-04-didier-eribon-eine-arbeiterin-leben-alter-und-sterben.m.mp3
Sehr kritisch äußert sich auch Guido Kalberer in der NZZ:
NZZ Guido Kalberer: Selbst beim Sterben herrscht Klassenkampf: Didier Eribon schreibt über seine Mutter, NZZ 12.03.2024,
https://www.nzz.ch/feuilleton/klassenkampf-beim-sterben-didier-eribon-schreibt-ueber-seine-mutter-ld.1820665
Mangelnde Empathie
Seine Mutter, die bei Eribon nicht zufällig ohne Vornamen bleibt, ist bloss ein Pars pro Toto, eine von unzähligen Alten, die der «strukturellen Gewalt» in den Institutionen unterliegen. Um ihre Individualität und Einzigartigkeit jenseits gesellschaftlicher Konventionen und Schablonen in den Blick zu bekommen, hätte Didier Eribon seine überhebliche Haltung, die sich aus seiner intellektuellen Überlegenheit nährt, ablegen müssen.
[...]
In beiden Abschiedsbüchern [ Rückkehr nach Reims; Die Arbeiterin] geht es ... um den klassenflüchtigen Linken, der in Paris seinen «hinterwäldlerischen Akzent» ablegt, um die herrschende Sprache, also die Sprache der Herrschenden, zu sprechen. Der gut situierte Bürger schaut auf seine provinzielle Herkunft herab und kann nicht begreifen, dass Arbeiterinnen wie seine Mutter vom kommunistischen Weg abgekommen und zum Front national übergelaufen sind. Didier Eribon fehlt die Kraft oder der Wille, diese gesellschaftlich bedeutsame politische Wende analytisch zu durchdringen und auf den Begriff zu bringen. Dabei wäre es doch die vornehmste Aufgabe eines Soziologen, Veränderungen in der Gesellschaft zu erfassen und einzuordnen – auch und vor allem dann, wenn sie nicht so
vonstattengehen wie erwünscht. Doch die Distanz, die der Arbeitersohn ein Leben lang auf- und ausgebaut hat und auf der letztlich seine Karriere beruht, verhindert die Nähe, die erforderlich wäre, um die Person zu verstehen, die seine Mutter war: nämlich mehr als «eine Arbeiterin».
Eine Lobeshymne geradezu mit ungewollten Einsprengseln von Kritik findet sich bei Nils Minkmar in der SZ:
SZ Nils Minkmar: Didier Eribons Buch "Die Arbeiterin": Hymne an die Schwäche
8. März 2024, 13:31 Uhr
https://www.sueddeutsche.de/kultur/didier-eribon-die-arbeiterin-literatur-rezension-buchempfehlungen-frankreich-1.6433643
Minkmar, den ich als Autor und Journalist sehr schätze, ist völlig gefangen von der Präsenz des Autors, der im persönlichen Gespräch ein aufmerksamer, höflicher und humorvoller Mensch ist, und genau das entfaltet sich auch, wenn er schreibt. Er verfällt nicht in einen wissenschaftlichen Jargon und jagt keiner literarischen Mode nach, sondern schreibt, als würde man an seinem Tisch im Café sitzen. [...] Er wirkt und lebt als öffentlicher Intellektueller. Sein wesentlicher Arbeitsplatz sind die Cafés des Quartiers Latin, wenn er nicht gerade in der ganzen Welt umherreist.
Das ist so ziemlich das Gegenteil von dem, wie ich den Autor sehe, aber in einem Punkt hat Minkmar (vermutlich ungewollt) recht: Der Autor schreibt, wie man im Pariser Café tratscht, nämlich über Gott und die schlechte Welt, mit Einsprengseln von soziologischem Schlaumeierwissen, nie ganz ernst zu nehmen, auch gerne immer wieder das wiederholend, was man schon in allen anderen Büchern vorher geschrieben hat.
Aber auch an einer zweiten Stelle hat Minkmar wohl ungewollt aufgedeckt, was Eribon umtreibt: Es ist eine neu formulierte Ideologie der Freundschaft, die sich aufs Schönste dazu eignet, die eigene Herkunft und Familie zu verleugnen, und zwar nicht nur ideologisch, sondern ganz real, das heißt im grauen, wenig illustren oder gar glamourösen Alltag.
Minkmar schreibt weiter:
De Lagasnerie hat ein Buch über das Thema der Freundschaft geschrieben und stellt dort den gesellschaftlichen und administrativen Vorrang der Familie vor der Freundschaft infrage. Das intellektuelle Trio ist Vorreiter einer besseren Anerkennung der Freundschaftsbande als Keimzelle der Gesellschaft. [...]
Dieses Motiv klingt auch in "Die Arbeiterin" an. Denn Eribon trifft zwar mit einem seiner Brüder zusammen, als sie den Umzug der Mutter in ein Altersheim ausführen. Der Bruder meckert, das Einräumen der Wäsche in den Schrank sei Frauenarbeit. Didier notiert: "Was verbindet uns? Nichts. Wie befremdlich und nahezu unerträglich das sein kann, was man gemeinhin "Familienbande" nennt. (...) Was verband uns? Nichts. Rein gar nichts. Außer der Tatsache, dass wir hier waren, um uns um unsere Mutter zu kümmern, dass wir hier sein mussten." [...]
Und immer noch Minkmar:
Allerdings - und das ist der schmerzliche Kern der Sache - konnte seine Mutter noch sehr genau beschreiben und ausdrücken, was ihr in dem Heim angetan wurde. Sie sprach es dem Sohn auf die Mailbox. Der reagierte nicht, war unterwegs.[...]
Denn, so die logische Schlussfolgerung: Freundschaft zählt mehr als die Nöte der eigenen Mutter. Wie konnte Minkmar dieses Verhalten einerseits notieren, aber in seiner Schäbigkeit nicht erkennen?
Weitere Rezensionen:
taz: Leben einer französischen Arbeiterin
VON NINA APIN
https://taz.de/Leben-einer-franzoesischen-Arbeiterin/!5996416/
FAZ. Ich war ein Sohn, jetzt bin ich keiner mehr
VON BARBARA VON MACHUI
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/didier-eribons-neues-buch-eine-arbeiterin-leben-alter-und-sterben-19568121.html
FAZ: Scham und Würde
VON CORD RIECHELMANN-AKTUALISIERT AM 15.03.2024-
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/scham-und-wuerde-didier-eribons-buch-ueber-seine-mutter-19588869.html
Zitat:
Wie hier bettet der Soziologe Eribon die persönliche Situation der Mutter immer so
unaufdringlich in allgemeine Lehren ein, ...
Genau das ist aber das Problem des Textes. Es geht nicht um seine Mutter und seinen Anteil an deren Vereinsamung am Lebensende, es geht immer nur um Ideologie. Die Mutter ist nur ein Fallbeispiel. Deshalb ist seine Selbstanklage (s.o.) einfach nur heuchlerisch und schäbig.