Elizabeth Strout, Alles ist möglich Luchterhand Literaturverlag, München 2018ISBN 9783630875286,
256 Seiten, 20,00 EUR.
Das erste Buch, das ich von Elizabeth Strout zu lesen bekam, war ein Zufallsfund aus dem öffentlichen Bücherschrank in Bessungen. Ich hinterlasse dort oft ältere Bücher, die ihre Zeit bei mir gehabt haben, um Platz im Regal zu schaffen. Leider nicht immer mit Erfolg, denn öfters bringe ich ein Buch hin und komme mit neuen Büchern zurück.
So fand ich vor längerer Zeit auch Elizabeths Strouts “Mit Blick aufs Meer” im Bücherschrank und war völlig überrascht, dass ich beim ersten Durchblättern auf einen Namen stieß, den ich aus einer Verfilmung kannte, und den ich schon deshalb mochte, weil Frances McDormand die Hauptrolle spielte: Olive Kitteridge.
Das Buch hielt, was der Film versprach, und noch mehr: Ich war buchstäblich angefixt vom Inhalt des Romans und vom Stil der Autorin. Das zweite Buch habe ich dann regulär gekauft: Elizabeth Strout: Die langen Abende.
Jetzt also eine neue deutsche Veröffentlichung: Elizabeth Strout: Alles ist möglich.
Neun Geschichten aus dem Mittleren Westen, genauer: aus Illinois, mit Blick auf Milieus und Mentalitäten. Alle handelnden Personen sind miteinander verwandt, verschwägert, befreundet oder untereinander verfeindet. Ein Mikrokosmos der ländlichen und kleinstädtischen weißen Mittel- und Unterschicht des Mittleren Westens tut sich vor uns auf.
Erbauliche Wohlfühlgeschichten sind das alle nicht. Es geht um Brandstiftung, Ehebruch, Scheidung, Misshandlung, Neid und Missgunst, alle menschliche Schwächen sind im Tableau enthalten. Im 7. Kapitel (“Zimmer mit Frühstück”) tritt mit Shelly Small, “die von der Ostküste kam”, eine Person auf, die von Grund auf einen fiesen Charakter hat und die man von Herzen verachten möchte. Ein sehr seltenes Exemplar in Elizabeth Strouts Figurenwelt.
Es gibt auch versöhnliche Charaktere, so der ehemalige Farmer und spätere Hausmeister der örtlichen Schule, Tommy Guptil, der dem Sohn des Mannes verzeiht, der Tommys Farm in Brand gesetzt hat und sich selbst schuldig fühlt.
Im heimlichen Mittelpunkt der Erzählungen steht eine alte Bekannte aus früheren Romanen (z.B. „Die Unvollkommenheit der Liebe“), Lucy Barton, “die in der Schule von allen verspottet wurde und nie in die Pausen ging”, aufgewachsen im tiefsten Prekariat (“Wir aßen vor Hunger aus Mülltonnen”) und die später als erfolgreiche Autorin in New York lebt. In vielen Geschichten spielt sie mit oder schwebt wie ein Geist über den Geschichten, so wie einst Olive Kitteridge.
Die Personenvielfalt mag manchmal verwirren, aber Alle und Alles hängt mit Allen und Allem zusammen, vermutete mal ein deutscher Philosoph, und so ist es auch mit den Geschichten und Personen in Elizabeth Strouts Erzählungen.
Schließlich klärt uns Elizabeth Strout auch soziologisch auf.
Hätte Dottie so lange von sich geredet, dann hätte sie sich besudelt gefühlt, inkontinent. Das lag an der unterschiedlichen Sozialisation, wie sie mittlerweile wusste - wobei ihr schien, dass sie Jahre gebraucht hatte für diese Erkenntnis. Und ihr schien auch, dass diese Thematik der unterschiedlichen Sozialisation in ihrem Land heutzutage zu kurz kam. Und die Art der Sozialisation hing vom Milieu ab, worüber hierzulande natürlich erst recht niemand sprach, weil sich das nicht schickte, aber Dottie dachte bei sich, dass die Leute auch deshalb nicht über Milieu sprachen, weil ihnen der Begriff im Grunde nichts sagte. Hätten die Leute zum Beispiel gewusst, dass Dottie und ihr Bruder sich als Kinder aus Müllcontainern ernährt hatten, was würden sie daraus ableiten? Ihr Bruder bewohnte nun seit Jahren eine riesige Villa in einem Nobelvorort von Chicago und besaß eine Fachfirma für Klimaanlagen, und Dottie war gepflegt und adrett und bestens informiert über das Weltgeschehen und betrieb ihre Frühstückspension mit großem Erfolg, was würden die Leute also sagen? Dass sie und ihr Bruder Abel den amerikanischen Traum verkörperten und dass all die anderen, die nach wie vor aus Müllcontainern aßen, es nicht anders verdienten? Sehr viele Menschen wären insgeheim dieser Meinung. Shelly Small mit ihrem bulligen Mann und ihrem schütteren Haar wäre sogar ziemlich sicher dieser Meinung. (196)Elizabeth Strout zu lesen heißt für mich immer noch, Einblick in ein Land zu gewinnen, das mir durch seine Kultur so nahe und durch seine Politik so fremd geworden ist: die Vereinigen Staaten von Amerika.
Rezensionen
Rezensionsübersicht beim
Die amerikanische Schriftstellerin Elizabeth Strout fügt in “Alles ist möglich” aus den Fragmenten einer Familie einen grandiosen Roman zusammen SZ 12.3.2019
Eine Art Fortsetzung ist der jüngste Roman von E.St.:
Deutschlandfunk Kultur:
SWR2 Literatur