Mittwoch, 14. April 2021

1000 Serpentinen Angst


Eine junge Frau steht am Bahnsteig einer thüringischen Kleinstadt vor einem Snackautomaten. Es gehen ihr viele Gedanken durch den Kopf. Ein Bewusstseinsstrom setzt im Jahr 2020 ein, wie bei James Joyce.
Und der Vergleich ist jeder Hinsicht angemessen.

Olivia Wenzel hat ein Buch über Rassismus geschrieben mit fiktiven Dialogen teilweise übergriffiger Gesprächspartner oder Ausfragerinnen.
Ohne Larmoyanz und ohne Sentimentalität, aber mit vielen Einsichten für einen alten, weißen Mann. 

Zitate
Alle wollen ständig mit mir über Rassismus sprechen. Das ist doch nicht meine Lebensaufgabe. (S.13) 
In New York gehe ich die Fifth Avenue entlang und esse unbefangen eine Banane. (S.48)
Was es mit dem Banane essen in NY auf sich hat, lesen Sie besser selbst auf Seite 49.


Und auch was es mit dem Automaten auf sich hat, sollten Sie selbst nachlesen: S.299!


Rezensionen etc.

Diese Frau in dem Buch, das bin ich nicht. Aber was sie schildert und wie sie spricht, das kann ich nachvollziehen. Wir haben viele ähnliche Dinge erlebt. Ich würde sagen, sie ist eine düsterere Variante von mir selbst, die ich im Alltag nicht aushalten könnte, zu sein.
Autorin Olivia Wenzel über Identität: „Coming-out als Nicht-Weiße“
Aus einer Rezension in der SZ: Olivia Menzel
macht sich also bewusst, welche Rolle rassistische und sexistische Stereotype in ihrem Leben gespielt haben, emanzipiert sich aber gleichzeitig von der wiederum beengenden Minderheitenidentität. Die Freiheit, die sie so erlangt, besteht letztlich darin, dass sie sich zu ihrer Geschichte in Beziehung setzt, ohne sich von ihr dominieren zu lassen.
Olivia Wenzel: 1000 Serpentinen Angst. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2020. 352 Seiten.


Andere können es besser:

 


Montag, 12. April 2021

Richard Ford: Rock Springs

Zehn Kurzgeschichten aus dem Jahr 1987, darunter vier aus der Sicht von Jugendlichen geschrieben, vorwiegend in Montana spielend, mit starken Anklängen an seinen Roman “Wildlife” aus dem Jahr 1990.

“In seinem berühmten Erzählband "Rock Springs" schildert Richard Ford Menschen, die unermüdlich versuchen, die Scherben ihres Lebens zu kitten, einen Rest von Sinn und Sicherheit zu finden”, heißt es auf der Verlagsseite zu dieser Sammlung von Kurzgeschichten.

Und das trifft den Nagel auf den Kopf. Die zehn Geschichten spielen fast ausnahmslos in prekären und beinahe-prekären Milieus in Montana, weit ab von den Personen und Milieus, die Richard Ford uns in seinen späteren Romanen, vor allem in seiner Bascombe-Reihe, nahe bringt. Es sind Geschichten von Armeeangehörigen und Armeebeschäftigten und deren Frauen und Söhnen. Geschichten vom Open Range des Nordwestens der USA, in dem die Ölindustrie und der lokale Luftwaffenstützpunkt das wirtschaftliche Zentrum bilden und es ansonsten nur viel Landschaft gibt. Sie spielen Anfang der 60er Jahre und werden in den frühen 80ern erinnert. Der kulturelle, soziale und vor allem der politische Horizont der Protagonisten ist und bleibt überschaubar und endet im wahrsten Sinne des Wortes an der Countygrenze. Der Traum vom Süden wird manchmal geträumt, er bleibt aber auf Florida begrenzt.*

Und es sind oft sehr traurige aber unsentimentale Geschichten, die viel mit einer Einstellung zu tun haben, die Mark Twain in seinem großen Roman Huckleberry Finn so beschrieben hat: 

“All I wanted was to go somewheres; all I wanted was a change. I warn't particilar.” 

Irritierend war für mich in nahezu allen Geschichten die Gesprächsführung der Protagonisten. Hier wird selten diskutiert oder argumentiert. Dialoge sind oft rätselhafte Selbstgespräche, die mehr auf passive Zustimmung abzielen als echte Zwiesprache zu sein (S.248). Die Sprecher erwarten keine ernsthaften Reaktionen und sie bekommen auch keine. Es wird in die eigene Geschichte hinein gesprochen, selten zur Außenwelt.

Ob die Ursache im eingeschränkten Sprachcode des Milieus zu finden ist, das Richard Ford beschreibt? Es sprechen nicht Angehörige der oberen Mittelschicht, Anwälte oder Immobilienmakler, wie in seinen Bascombe-Romanen, sondern hier kommen Verlierer zu Wort, dysfunktionale Mütter und Väter, wie es in der englischen Wikipedia heißt, Gescheiterte und solche, die das Scheitern noch vor sich haben. Oft sind es Alleinerziehende - auch alleinerziehende Väter- und Jugendliche ohne Bezug zu der Generation der Erwachsenen. Der Sohn ist in der Rolle des distanzierten und distanzierenden Erzählers dargestellt, der über seine Zeit als Jugendlicher berichtet und über die Schicksalsschläge, die ihm versetzt wurden, - und welche Lehren er daraus zog, um erwachsen zu werden. 

Man kann die Kurzgeschichten auch als Verknappung und Vorläufer zu Richard Fords Roman “Wild Leben” von 1990 lesen, der in der gleichen Gegend und im gleichen sozialen Umfeld spielt und beinahe die gleichen Fragen stellt - Warum lebt man nicht glücklich? -  und die gleichen Antworten gibt:  

Es ist das schlechte Leben, irgendeine Kälte in uns allen, eine Hilflosigkeit, die uns dazu bringt, das Leben, wenn es rein und einfach ist, misszuverstehen, und sie lässt unsere Existenz wie eine Grenze zwischen zwei Bereichen des Nichts erscheinen und macht uns zu nichts mehr und nichts weniger als Tieren, die einander auf der Straße begegnen - wachsam, mitleidlos, ohne Geduld oder Sehnsucht”

schreibt er in der Story Great Falls.

Die Kurzgeschichten folgen in Aufbau und Stil oft einem festen Schema. Der Erzähler erinnert sich, er schildert eine Konflikt oder ein bemerkenswertes Ereignis in der Biographie, und es wird ein Resümee im Sinne einer “Lehre fürs Leben” gezogen. Wie aus einem Lehrbuch für Creative Writing.

Dennoch: Uns diese fremde Welt bildhaft vor Augen zu führen, das ist, finde ich, Richard Ford überzeugend gelungen.

Das fällt mir auch bei den späteren Romanen von Richard Ford und anderen Autoren wie Donald Ray Pollock, Richard Yates, Stewart O’Nan etc. auf: Amerika, die USA und deren Bewohner sind ein Land, das sich selbst genügt. 

Richard Ford. Rock Springs: Short Stories, dt. von Harald Goland; S. Fischer, Frankfurt am Main 1989


Samstag, 10. April 2021

Wie wohlhabend sind Sie?

 fragt DIE ZEIT im Februar 2021 und referiert eine Bremer Studie.

“Ein Team um den Bremer Soziologen Olaf Groh-Samberg hat das für das Bundesarbeitsministerium getan. [...] Dabei haben sie mehrere Dimensionen des Wohlstands miteinander verrechnet, um ein komplexeres Bild von Arm und Reich in Deutschland zu zeigen: die Einkommen, die Vermögen, die Wohnsituation und wie gut die Mitglieder eines Haushaltes in den Arbeitsmarkt integriert sind. Die Grundidee: Nicht einer dieser Faktoren allein entscheidet über die soziale Position in einer Gesellschaft – sondern alle gemeinsam.  [...]  Die oberste Gruppe umfasst die Reichen in Deutschland, die Forschenden wählten jedoch ein Wort, das stärker auf die Privilegien abhebt. Wer einen sicheren Job, ein hohes Vermögen und viel Platz hat, ist demnach nicht nur reich. Er oder sie ist wohlhabend.

So weit, so gut. Es gibt aber Probleme mit dem Algorithmus:

Im Text der ZEIT heißt es: "Eine Frau, die 4.500 Euro netto verdient, zählt dann zu den obersten zehn Prozent – auch, wenn sie allein ein Kind erzieht, in einer kleinen Stadtwohnung lebt, einen befristeten Vertrag besitzt und keine nennenswerten Rücklagen hat."

Gibt man diese Daten ein, erhält man ein verblüffendes Ergebnis:

Ein weiteres Schmankerl:

Die ZEIT schreibt: "Mithilfe eines Algorithmus und einiger Annahmen haben die Wissenschaftler die Bevölkerung anschließend in sechs Gruppen unterteilt: Armut, Prekarität, untere Mitte, Mitte, Wohlstand und Wohlhabenheit. Die Forschungsgruppe nennt sie soziale Lagen, man könnte auch von gesellschaftlichen Klassen oder Schichten sprechen.”

Ein Satz, der mich still verzweifeln lässt, es sei denn, man nennt eine Kuh mal einen Ochsen oder ein andermal ein Kalb, ist eh alles wurscht für einen Journalisten. Soziologie ist aber eine Wissenschaft mit definierten Begriffen. Journalismus ist es nicht. Das sieht man.

Noch ein Zitat:

“Kaum jemand in der Lage der Armut besitzt Wohneigentum. [...] Wohlhabende sind besser gebildet, besitzen häufiger Wohneigentum und verdienen im Schnitt mehr als fünfmal so viel.”

Ich hoffe doch sehr, dass die Studie aussagekräftigere Ergebnisse erbracht hat.

Die Mitte schrumpft - aber warum?

Wenn man, wie im Artikel geschehen, die Gesellschaft in drei Kategorien einteilt, nämlich  zwei Oberschichten (= "Oben"), drei Unterschichten, d.h. einschließlich der unteren Mitte (= "Unten" und eine "Mitte"(lschicht) ergibt sich ein verblüffendes Bild. Hier die (saldierten) Zahlen.

1984 Oben: 17,4%; Mitte: 48%, Unten: 34,6%

2018: Oben: 26,8%; Mitte: 39,9%; Unten: 33,3%

Kurz: Die Mitte ist schwächer geworden, weil sie mehr nach oben abgegeben hat, als von unten nachgerückt sind. Aber das untere Drittel hat ebenfalls anteilmäßig abgenommen. Es sind also insgesamt mehr aufgestiegen als abgestiegen. Ein Skandal ist das nicht gerade.


Quelle: Wie wohlhabend sind Sie?

Von Paul Blickle, Annick Ehmann, Philip Faigle, Julia Kopatzki, Christopher Möller, Julian Stahnke und Julius Tröger

ZEIT.de  vom 15. Februar 2021, 11:34 Uhr Aktualisiert am 15. Februar 2021, 11:53 Uhr 1.657 Kommentare


Donnerstag, 8. April 2021

Mittwoch, 7. April 2021

Ein Buch und seine Freundinnen


Besprechung: SZ vom 29.3.2021
“Roig, Gründerin und Direktorin* des Center for Intersectional Justice (CIJ) in Berlin, fordert das Ende der Polizei, der Gefängnisse, der Ehe, der Arbeit und des Kapitalismus. Sie alle seien Instrumente der Ungleichbehandlung und nicht reformierbar. Weg damit.”
Und ab ins Paradies!

*Direktorin klingt natürlich besser als "Vorsitzende des selbst gegründeten Vereins Center for Intersectional Justice e.V.", was sie tatsächlich ist.