“In Lütten Klein gingen wir an Feier- und Sonntagen gern in die örtliche Restaurants. In der Gaststätte Riga (...) wurde Hausmannskost serviert. Der beliebte Dreiklang aus Fleisch, Kartoffeln und Mischgemüse kam ohne große Verfeinerung aus. Man trank vor allem Bier und Schnaps; Wein und Sekt waren besonderen Anlässen oder den Frauen vorbehalten.” (Steffen Mau, Lütten Klein,S.66)
Vom 4. bis 6. August 2020 war ich für drei Tage in Thüringen. In Erfurt-Schmira habe ich das Elternhaus meines Vaters besucht und in Waltershausen die ehemalige Gaststätte meiner Tante.
Schmira
Der kleine Reiner mit seiner Oma 1950.
In diesem Haus, bei meiner Oma Anna Wadel, habe ich weitgehend mein erstes Lebensjahr ohne meine Eltern verbracht; von Dezember 1949 bis Dezember 1950. Warum? Das verliert sich im Dunkel der Familiengeschichte. Vielleicht waren es die schlechten Lebensbedingungen in der französischen Zone (Baden-Baden), wo ich geboren wurde und meine Eltern wohnten und arbeiteten. Wer weiß?
Das Haus wurde von meiner Oma nach ihrer Verrentung vermietet und nach der Wende verkauft.
Der aktuelle Besitzer des Hauses hat an der ehemaligen Werkstatt das alte Schild meines Opas angebracht, was für mich sehr berührend war. Selbst sein Todestag ist dort vermerkt
1956 war ich noch einmal mit meinen Eltern in Schmira. Erinnerungen daran habe ich nur wenige. Aber nicht vergessen habe ich den Ausflug nach Erfurt, wo sie mir im HO-Kaufhaus ein Holzspielzeug kauften und ich zum allerersten Mal auf einer Rolltreppe gefahren bin. Ein unglaubliches Erlebnis für ein sechsjähriges Kind.
Waltershausen
Im nahegelegenen Waltershausen führte mich mein erster Gang zum Haus meiner entfernten Tante Traudl Staudinger, die mit ihrem Mann bis 1988 hier eine HO-Gaststätte führte, den Bayerischen Hof. Erst als der Mann starb, wurde die Gaststätte aufgegeben. Heute hat sich in dem Gebäude ein Sanitätshaus niedergelassen.
Ein Blick zurück: 1990
Die Tante war auch der Anlass für meinen ersten Besuch in Waltershausen, gleich nach der Wende im Februar 1990. Ich habe noch deutlich einige Bilder vor meinen Augen, die mich damals sprachlos machten und die mich heute noch erstaunen.
Meine Tante machte mit mir eine Stadtführung und führte mich an den Rand der Stadt zu dem damaligen "VEB Gummiwerk Werner Lamberz”, einem wichtigen Arbeitgeber neben der weltweit exportierenden Puppenfabrik. Man konnte von Außen durch zerbrochene Scheiben in das Innere einer Produktionshalle sehen, und es sah aus wie im finstersten Kapitalismus. Altes Gerümpel stand herum, es war schmutzig und roch stark nach altem und verbranntem Öl. Ein trauriges Bild für den Arbeiter- und Bauernstaat.
Zurück im Städtchen beobachteten wir einen kleinen Auflauf vor einem Schnapsladen. Frauen und Männer standen vor dem Laden und warteten, denn es hatte sich herumgesprochen, dass neue Ware eingetroffen war. Ein Schild am Eingang wies aber darauf hin: “Wegen Warenanlieferung vorübergehend geschlossen”, was mich doch sehr erstaunte. Noch erstaunlicher war für mich, dass die Wartenden alle Arbeitskleidung trugen. Meine Tante klärte mich auf: Es sei ganz normal den Arbeitsplatz zu verlassen, wenn es neue Waren gibt. Das machten alle so.
Aus dem Laden kam ein Mitarbeiter und meine Tante verwickelte ihn in ein Gespräch. Der Mann beklagte sich, er habe eine Rüge bekommen, weil er die bundesdeutsche Fahne an der Fassade des Ladens angebracht habe. Man solle ihm nur krumm kommen, dann würde er nach Dortmund “rüber machen”. Sein Bruder sei schon dort und würde ihn aufnehmen.
Im Stillen dachte ich mir, er wird sich auch in Dortmund wundern, wenn er eine Abmahnung bekommt wegen Aufhängens einer Fahne am Geschäftshaus. Aber so war die Stimmung: Nix wie weg.
Am ersten Abend besuchten wir eine Gaststätte am Rand der Stadt. Es muss ein Presseklub oder etwas ähnliches gewesen sein, keine normale Kneipe. Der Gastraum war völlig leer, dennoch sollten wir warten bis wir einen Platz zugewiesen bekommen, so die Anweisung einer jungen Kellnerin. Der gewünschte Platz am Fenster war noch nicht abgeräumt und wurde es auch nicht im Verlauf des Abends. Das Essen entsprach voll den Standards der DDR (siehe oben das Zitat von Steffen Mau) und war spottbillig, auch in DDR-Währung, die damals noch gültig war.
Am ersten Abend besuchten wir eine Gaststätte am Rand der Stadt. Es muss ein Presseklub oder etwas ähnliches gewesen sein, keine normale Kneipe. Der Gastraum war völlig leer, dennoch sollten wir warten bis wir einen Platz zugewiesen bekommen, so die Anweisung einer jungen Kellnerin. Der gewünschte Platz am Fenster war noch nicht abgeräumt und wurde es auch nicht im Verlauf des Abends. Das Essen entsprach voll den Standards der DDR (siehe oben das Zitat von Steffen Mau) und war spottbillig, auch in DDR-Währung, die damals noch gültig war.
In der nahe gelegenen Buchhandlung wurden schon die ersten Bücher aussortiert und in den Container vor dem Haus geworfen. Viel Parteiliteratur, aber auch Bücher aus dem renommierten Aufbau-Verlag. Ich habe mich bedient und auch einige “Orden”, d.h. Auszeichnungen für vorbildliche Arbeit mitgenommen.
Allgemein herrschte eine Stimmung wie in einem konkursreifen Unternehmen: Die einen waren in Gedanken schon unterwegs, die anderen verunsichert, was da wohl noch komme.
Ausverkauf und Geschäftsaufgabe eines Staates.
1990 war Waltershausen ein Städtchen im Dornröschenschlaf. Überall konnte man die alte Schönheit noch erahnen, aber der Zahn der Zeit nagte kräftig am Gesicht der Stadt. Der Lack war ab, die Kleidung verschlissen und verwies auf die jahrzehntelange Vernachlässigung. Zu groß war die öffentliche Armut für ein face-lifting.
Fast alles hat sich danach zum Positiven verändert.
Viele meiner Erlebnisse decken sich mit dem Bericht von Martin Mau: Das letzte Jahr. Siehe meine Besprechung des Buches hier: Klick
Die Gegenwart
Waltershausen (Wikipedia: Klick) ist mittlerweile ein nettes Städtchen, ich finde es im Zentrum sogar attraktiver als die nahegelegenen Ausflugsziele Bad Tabarz und Friedrichroda. Waltershausen hat romantische Gassen, schöne Häuser im Stil des ausgehenden 19. Jahrhunderts und in der Villengegend am Burghang findet man so gut wie keine scheußlichen Schottergärten. Es scheint auch viele Arbeitsplätze zu geben, wie man auf der Zufahrtsstraße zur Autobahn A4 sehen kann. Vermutlich Zulieferer für das Opelwerk in Eisenach, aber auch viel Logistik.
(Die Stadt ist nicht immer so leer, wie auf den Fotos. Es war Mittagszeit bei 30° im Schatten!)
Was mich wirklich überrascht hat: Im Stadtzentrum von Waltershausen gibt es zwar kaum noch Bäcker und Lebensmittelläden, aber immer noch Metzger. Man isst halt gerne Fleisch in Thüringen. Und noch erstaunlicher: Es gibt einen sehr gut sortierten tegut-Laden und weitere Kettenläden nahe dem Zentrum und am Stadtrand.
Das kulinarische Angebot konnte mich (wie 1990) nicht überzeugen. Der Italiener im Stadtzentrum ist bemüht, mehr aber nicht. Es gibt einige Pizza-Angebote und täglich etwas Besonderes, zum Beispiel Fischfilet. Die Weinauswahl ist beschränkt, bei Weißwein kann man wählen zwischen trocken und nicht-trocken. Der "Chinese" am Ort war eine ziemliche Katastrophe (Tofu mit Gemüse, ertränkt in einer Sahnesauce) und das Café in der Hauptstraße hat einen Cappuccino angeboten, den man eigentlich nur ausspucken konnte. Meine Vermutung: die anspruchslose Nachfrage bestimmt das bescheidene Angebot. Ist das ein Gruß der alten DDR?.
Es soll aber noch ein gutes Restaurant im Ort geben, direkt unterhalb der Villa Burgberg. Als ich aber danach suchte und es fand, war es nicht geöffnet. Dann halt beim nächsten Mal.
Aufenthalt
Waltershausen eignet sich sehr gut als Ausgangspunkt für Ausflüge nach Gotha (mit der Kleinbahn!), nach Erfurt oder Weimar und für Wanderungen auf dem Rennsteig. Man kann mit der Bahn auch hinauf nach Friedrichroda und Tabarz fahren.
Ich bin am Mittwoch von Waltershausen nach Tabarz gewandert und von dort habe ich "rüber gemacht" nach Friedrichroda und wieder runter nach Waltershausen. Sehr schöner Wald, sehr schöne Wege, aber miserabel ausgeschildert. Es werden nicht Ziele angezeigt, sondern die Namen der Wege, die sich aber ab und zu ändern.
Im Schwarzwald zu wandern, was Sabine und ich oft machen, ist das genaue Gegenteil: Dort findet man an jeder Ecke einen Schilderwald mit Hinweisen auf das nächste, das übernächste und das letzte Ziel auf der Strecke, was mich oft ziemlich nervt. Aber man wird verwöhnt dadurch. Hier jetzt das Gegenteil, aber die Wanderkarte hat geholfen und es hat sich gelohnt. Es war eine romantische Wanderung durch einen sommerlichen Märchenwald. Und ich war die meiste Zeit alleine auf den Wegen.
In einem Café in Tabarz habe ich die Meckerei von vier Maulhelden meiner Altersgruppe mitbekommen. Jeder nach Umfang, Volumen und Masse gut das Doppelte von mir, die sich ganz sicher waren, dass wir alle von der Presse belogen werden, denn “in Berlin waren nicht 20 000 Querdenker auf der Straße, sondern mindestens 1,2 Millionen”.
Das war wohl die weniger angenehme Seite von Thüringen. Ach, egal.
Unterkunft
Gewohnt habe ich in der Pension “Villa Burgberg”. Eine hübsche Villa, am nördlichen Burghang von Schloss Tenneberg gelegen mit weitem Blick über das Städtchen bis nach Gotha. Die Einrichtung der Zimmer ist modern und ansprechend, die Gemeinschaftsräume und das Treppenhaus sind im Stil des Biedermeiers gehalten und stammen wohl auch aus dieser Zeit. Überzeugende Sauberkeit und freundliche Aufnahme. Keine Hektik, man kann sich richtig erholen. Sehr gut geeignet für einen Kurzurlaub.
Ich habe Müsli zum Frühstück vermisst, gebe aber zu, dass ich nicht danach gefragt habe. War wahrscheinlich mein Fehler.
Ich komme gerne wieder. Reiner Wadel, August 2020