Freitag, 28. Juli 2017

Édouard Louis: Das Ende von Eddy


Klappentext

Ein Befreiungsschlag, ein Aufbruch in ein neues Leben – mit unglaublicher Sprachgewalt erzählt der junge französische Autor Édouard Louis die Geschichte einer geglückten Flucht aus einer unerträglichen Kindheit: inspiriert von seiner eigenen. ›Das Ende von Eddy‹ ist sein Debütroman, der zu einem großen Erfolg und einer der meistdiskutierten Veröffentlichungen des Jahres wurde. 

Eddy:
"An meine Kindheit habe ich keine einzige glückliche Erinnerung. Das soll nicht heißen, ich hätte in all den Jahren niemals Glück oder Freude empfunden. Aber das Leiden ist totalitär: Es eliminiert alles, was nicht in sein System passt." 
Das Buch von Édouard Louis ist kein Roman und auch nicht "mit unglaublicher Sprachgewalt erzählt", wie der Klappentext vollmundig behauptet, dennoch ist das Buch unbedingt lesenswert. Édouard "Eddy" Louis' Schilderung eines unerträglichen Lebens voller Gewalt, Hass und Demütigung, als schwules Kind in der französischen Provinz, lässt keinen Leser unberührt. Es ist eine einzige Anklage des Milieus, dem er entrinnen konnte. Ein Milieu, das gekennzeichnet ist durch endloses Gerede über Nachbarn und Verwandtschaft, stumpfsinnigem Fernsehkonsum rund um die Uhr, einer vulgären Sprache, einer gewalttätigen Art und Weise Konflikte zu lösen, dem Suff als hauptsächlichem Freizeitvergnügen neben dem Fernsehen, Homophobie und nicht zuletzt durch eine reaktionäre Einstellung gegenüber allem, was vom Hergebrachten abweicht: Die Frau, die plötzlich mehr verdient als der arbeitslose Mann, der tuntige Sohn, der gerne sich als Mädchen verkleidet, auf die weiterführende Schule geht und plötzlich nicht mehr den gängigen vulgären Umgangston pflegt. All das darf nicht sein und wird deshalb hasserfüllt und brutal mit Schlägen sanktioniert. Selbstverständlich wählt man Le Pen. 


'Das Ende von Eddy' ist weniger analytisch als das thematisch ähnliche Buch von Eribon, aber viel überzeugender in der Darstellung der alltäglichen physischen und strukturellen Gewalt - und überhaupt nicht wehleidig, was man Eribon leider vorwerfen kann.


Wie gelingt es Eddy aus dem Milieu auszusteigen? Es ist, trotz der unglaublichen Gewalt, die er dort täglich von Mitschülern erleiden muss, die Schule, sein Interesse am Lernen, ein Lehrer, eine Schulleiterin, die ihm den Weg zur höheren Schulbildung eröffnen und damit den Aus- und Aufstieg aus seinem Milieu ermöglichen. Aber vor allem ist es seine Rolle als gesellschaftlicher Außenseiter. Er hatte keine Alternative, wollte er ein besseres Leben führen und der täglichen Gewalt entrinnen. Hierin gleicht sich sein Schicksal dem Eribons; es ist sicher kein Zufall, dass beide homosexuell sind
Beiden wurde die Chance zum Aus- und Aufstieg geboten und beide wussten sie zu nutzen.

Manches ist mir vertraut aus meiner eigenen Kindheit in ähnlichem, aber weit weniger hoffnungslosem Milieu in den 50er Jahren. Was mich deshalb am meisten deprimiert an dem Buch: Eddy ist 1990 geboren, und in 40 Jahren scheint sich, außer dem fatalen Einzug des Fernsehers ins Familienleben, nicht viel geändert zu haben. Im Gegenteil, es wurde schlimmer.

Édouard Louis hat kein Rezept, wie sich die Verhältnisse verbessern lassen*, er hat auch keine Antwort auf die Frage, wie es geschehen konnte. Sein Buch ist aber ein einziger Aufschrei: "Seht hin, was da passiert". Und man müsste ergänzen und den Beteiligten zurufen: "Warum lasst ihr das zu? Wer hindert euch daran, eure Frauen und Kinder anständig zu behandeln, wer hindert euch daran, euren Kinder Bildung zukommen zu lassen,? Wer zwingt euch zu dem mitleidlosen und brutalen Umgang miteinander? Ist es nicht das selbst erzeugte und weitergegebene Milieu, das euch daran hindert, menschlicher miteinander umzugehen? Wer, wenn nicht ihr selbst, kann diese Verhältnisse ändern?"

* Hierzu die Einschränkung, dass sich Louis in Interviews durchaus zu den Ursachen des Elends geäußert hat. Es ist, natürlich muss man fast sagen, der Neoliberalismus und der Verrat der Linken. Hier unterscheidet er sich nicht im geringsten von Eribon.
Siehe: Frankreich vor der Wahl: Édouard Louis über die vergessene Arbeiterklasse - SPIEGEL ONLINE Dienstag, April 25, 2017


Weitere Links zu Buch und Autor: 

Édouard Louis im Corso-Gespräch mit Dirk Fuhrig /Deutschlandfunk

Ulf Lippitz: Bestsellerautor über Homophobie - Erinnerungen an ein Familiendrama / Tagesspiegel (mit Foto des Geburtshauses)

Grußwort von Staatsminister Michael Roth bei der Gesprächsrunde zum Thema "Ausgrenzung und Gewalt gegen sexuelle Minderheiten – wenn Literatur Politik trifft" mit dem französischen Autor Édouard Louis am 12. März 2015 


Rezensionen:

Und er nahm eine Axt und kappte seine Wurzeln - Édouard Louis‘ Debütroman erzählt von der Befreiung aus einer Kindheit voll Demütigung und Intoleranz 

Homophobie in der Provinz. Ein Herz, verschlossen wie eine Auster. Von Franziska Wolffheim (Spiegel)

Abrechnung und Aufbegehren von Matthias Hennig (NZZ 31.3.2015)

Übersicht aller Buchrezensionen:

http://literaturkritik.de/public/buecher/Buch-Info.php?buch_id=40157

Freitag, 21. Juli 2017

Didier Eribon: Rückkehr nach Reims




Klappentext

"Als sein Vater stirbt, reist Didier Eribon zum ersten Mal nach Jahrzehnten in seine Heimatstadt. Gemeinsam mit seiner Mutter sieht er sich Fotos an – das ist die Ausgangskonstellation dieses Buchs, das autobiografisches Schreiben mit soziologischer Reflexion verknüpft. Eribon realisiert, wie sehr er unter der Homophobie seines Herkunftsmilieus litt und dass es der Habitus einer armen Arbeiterfamilie war, der es ihm schwer machte, in der Pariser Gesellschaft Fuß zu fassen. Darüber hinaus liefert er eine Analyse des sozialen und intellektuellen Lebens seit den fünfziger Jahren und fragt, warum ein Teil der Arbeiterschaft zum Front National übergelaufen ist. Das Buch sorgt seit seinem Erscheinen international für Aufsehen. So widmete Édouard Louis dem Autor seinen Bestseller Das Ende von Eddy."


Insgesamt war die Lektüre für mich zwiespältig: Einerseits stört mich ein larmoyanter (vor allem in den Kapiteln I.2 und II.4), streckenweise arroganter Ton (S.80) und eine für einen Soziologen auffallend konfuse Begriffsbildung für ein und dieselbe soziale Gruppe: Arbeiterklasse, untere Schichten, populäre Klassen, populäre Milieus (S.37) etc. Auch die theoretischen Exkurse in Abschnitt IV zu Bourdieu etc. sind für mich wenig ergiebig.

Andererseits fasziniert mich seine präzise und durchaus schonungslose Beschreibung des sozialen Milieus im Vor- und Nachkriegs-Reims und dessen Wandel, aus dem Eribon entstammt. Es ist die Biographie eines 'Klassenflüchtlings', seiner Eltern und Großeltern. 
Wie gelang Eribon der Ausbruch aus diesem Milieu? Wie gelang ihm der Aufstieg vom schwulen Unterschichtskind zum Intellektuellen? Was waren fördernde, was hemmende Faktoren beim Auf- und Ausstieg?  

In den Mittelpunkt seiner „Rückkehr nach Reims“ stellt Eribon eine andere Frage:
"In meiner Kindheit [...] ist meine gesamte Familie 'kommunistisch' gewesen [...]. Wie konnte es dazu kommen, dass man in derselben Familie wenig später rechte oder rechtsextreme Parteien wählte und dies sogar manchmal als die 'natürliche' Wahl empfand?" (S.117)

Eribon gibt 2 Antworten:
 "Hätte man aus dem, was tagtäglich in meiner Familie gesprochen wurde, ein politisches Programm stricken wollen, es wäre, obwohl man hier links wählte, dem der Rechtsextremen wohl ziemlich nahe gekommen." (S.133)
und 
"Vielleicht ist das Band zwischen der 'Arbeiterklasse' und der Linken gar nicht so natürlich, wie man gerne glaubt. Vielleicht handelt es sich dabei einfach um das Konstrukt einer bestimmten Theorie (des Marxismus), die alle anderen Theorien ausgestochen hat und bis heute unsere Wahrnehmung der sozialen Welt sowie unsere politischen Kategorien bestimmt." (S.141) 

Das ist eine spannende Frage mit zwei bitteren Antworten - leider nimmt Eribon seine Antworten selbst zu wenig ernst. 




Liest man Eribons Familiengeschichte, so fällt auf, dass der politische Wechsel von Links nach Rechts eine verblüffende und gleichzeitig verstörende Konstante hat: Es ging und geht immer noch um den Gegensatz: „Wir gegen Sie“ (S.39; S.137f). Nur das Gegenüber hat sich im 21. Jahrhundert geändert, nicht die Konstellation. Statt gegen 'die da oben' nun gegen 'die da unten'. Der Klassenhass wird durch den Rassenhass ersetzt.

Eribon will das aber nicht zur Kenntnis zu nehmen. 
Für ihn ist der Wechsel von Links nach Rechts Ergebnis des Umschwenkens der 'Linken' ins neoliberale Lager, des Verrats der Linken an der Arbeiterklasse, ihrer „Modernisierung“, wie er auch in Interviews immer wieder betont*. Der Wechsel ist für ihn nicht Ergebnis sozialer Veränderungen vor Ort, oder des Gegensatzes Zentrum-Peripherie in Frankreich, oder gar Ergebnis einer partiellen Maghrebisierung der französischen Gesellschaft. Es ist für mich bezeichnend, dass der Siegeszug des FN im Süden Frankreichs begonnen hat und nicht im detindustrialisierten Norden.

Nur die Rückkehr der Linken, insbesondere der Parti Socialiste PS, zu ihren alten politischen Ideen und Konzepten könne eine erfolgversprechende Strategie gegen den Aufstieg des FN sein und die Gesellschaft dem Heil wieder näher bringen, so Eribon. 




Damit hängt er aber einem marxistischen Denken an, das in den 70er Jahren populär war und in  intellektuellen Kreisen Frankreichs vermutlich noch immer populär ist. Zur Gegenwartsanalyse trägt dies jedoch nichts Überzeugendes bei und ist in meinen Augen nur noch lächerlich. Den ‚Neoliberalismus‘ für alles verantwortlich zu machen, was schief läuft, zeugt von Denkfaulheit und nicht von marxistischer Analyse.

Ich setze eine steile These dagegen: 


Ursache für den politischen (nicht kulturellen, denn kulturell war die Arbeiterklasse schon immer konservativ bis rechts) Rechtsschwenk der 'Arbeiterklasse' ist nicht der Popanz 'Neoliberalismus' und die damit verbundene soziale Ausgrenzung einer ganzen Bevölkerungsgruppe, sondern in erster Linie der soziale Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft, die Auflösung des sozialen Milieus der politisch gebildeten Industriearbeiterschaft und damit einhergehend die Ausdünnung der politischen Vertreter der Arbeiterklasse durch sozialen Aufstieg.

Früher war die Arbeiterbewegung auch eine Arbeiterbildungsbewegung mit Lesekreisen, Buchgenossenschaft, Fortbildungsveranstaltungen, Kulturvereinen etc. Sie umfasste nicht nur ein breites Spektrum an Freizeitaktivitäten sondern bot auch Hilfe und Unterstützung in allen Lebenslagen an. In diesem Milieu war sozialer Aufstieg möglich als Gewerkschaftsfunktionär, Parteisoldat, Lokal- und Regionalpolitiker (in Deutschland zusätzlich: Funktionär bei Sozialverbänden wie AWO, VdK etc.), möglich, d.h. Bildung führte früher zum Aufstieg als Funktionär innerhalb der Klasse.

Die Auflösung des sozialen Milieus, die Vereinzelung ihrer ehemaligen Angehörigen und ihre 'Verbürgerlichung', wie Eribon S.79 beklagt, hervorgerufen die im Vergleich zur Vorkriegszeit höheren Einkommen und verbesserten Konsummöglichkeiten und - nicht zu unterschätzen -  die Einflüsse der Kulturindustrie in Form des Fernsehens als Leitmedium, haben nicht nur zur Auflösung der traditionellen Kultur- und Freizeiteinrichtungen geführt, sondern auch dazu, dass heute eine Karriere als Funktionär weder attraktiv noch möglich ist. Sozialer Aufstieg durch Bildung ist heute nur noch möglich durch Ausstieg aus der sozialen Klasse. 

In der Vorkriegszeit und noch danach wäre Eribon wahrscheinlich Partei- oder Gewerkschaftsfunktionär geworden und irgendwann vielleicht sogar in Paris angekommen. In der Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs der 60er Jahre wurde er zunächst Student, dann Hochschullehrer und landete auf diesem Weg in Paris bzw. heute in Amiens.

Zurück bleibt eine verunsicherte, sich bedroht fühlende Gesellschaftsschicht, die keine akzeptierten Ansprechpartner mehr hat, sondern zur Beute von Extremisten wird, die ihre Ängste aufnimmt, die zwar nicht MIT ihr spricht, aber ZU ihr und das Gefühl vermittelt: Hier werden meine Ängste ausgesprochen, hier sind wir ‚chez nous‘. Donald Trump und Marine Le Pen, die sich in ihrer Demagogie wie ein Ei dem anderen gleichen, haben dies exemplarisch vorgeführt.
Die Beschwörung vergangener glorreicher Zeiten einer dominanten Linken und die Rückbesinnung auf deren Ideen wird diese Entwicklung nicht aufhalten können. Auch das haben die letzten Wahlen in Frankreich gezeigt.

Für mich ist ein weiterer Aspekt des Buches unbefriedigend: die kaum reflektierte Rolle der Bildung beim sozialen Aufstieg vom Arbeiterkind zum Intellektuellen. Einerseits kritisiert Eribon den Klassencharakter des franz. Gesamt(!)schulsystems, andererseits betont er, "die schulische Selektion basiert oft auf Selbstexklusion und Selbsteliminierung, die Betroffenen reklamieren ihren Ausschluss als Resultat ihrer eigenen Wahlfreiheit" (S.44), ohne zu sehen, dass der erste Satz im Widerspruch zum zweiten steht. 

Da er offensichtlich von diesem Schulsystem profitiert hat, hätte ich von ihm als Soziologen erwartet, dass er sich mehr mit der Frage auseinandersetzt, warum ihm dieser Aufstieg möglich war, seinem fast gleichaltrigen Bruder aber nicht. Die Andeutungen zur Rolle seiner Mutter in diesem Prozess sind mir zu dürftig,** und seine eigene Erklärung, dass dies nur in Abgrenzung zum eigenen Milieu möglich war, erklärt letztlich nichts.

Zur Rolle von Bildungsneugier, Schule und einzelnen Lehrern beim sozialen Aufstieg, kann man in den Romanen von Ulla Hahn ‚Das verborgene Wort‘ und 'Aufbruch' mehr erfahren https://de.wikipedia.org/wiki/Aufbruch_(Roman)


Insgesamt ist das Buch von Didier Eribon also eine verstörende, aber auch zwiespältige Lektüre mit vielen spannenden Fragen, aber leider ohne befriedigende Antworten.


Anmerkungen / Links:

* So zuletzt im Interview "Der Zeitgeist ist faschistoid" vom 6.4.2017:

„In den 80er-Jahren war die Kommunistische Partei quasi verschwunden und die sozialdemokratischen Linken wollten sich modernisieren. Bei diesem Prozess wurden alle Ideen und Diskurse zu Unterdrückung und Klassenkampf aufgegeben. Eigentlich alles, was bisher die Linke charakterisierte. Die Unterschiede zwischen Marx und Tocqueville, zwischen Jean-Paul Sartre und Raymond Aron usw. gab es nicht mehr. Die Linken haben einfach den Neoliberalismus übernommen.Es gab auf einmal keine "Arbeiterklasse" mehr, sondern "Verlierer der Globalisierung". Die Feinde waren nicht mehr die Besitzer und die Bourgeoisie, sondern die Privilegierten und die Migranten. Das Vokabular hat sich verändert, und damit auch die Wahrnehmung der Realität und schließlich die Wahl: Die Linken haben die Probleme der Unterschichten vernachlässigt, ihre Wählerschaft hat sie für den Front National verlassen. Dies geben viele linke Intellektuelle ungern zu. Ein solcher Wandel zeigt nämlich, dass es keine natürliche Verbundenheit zwischen den Unterschichten und den Linken gibt. Besser ist es aber, eine Realität anzuerkennen, um sie analysieren und eventuell ändern zu können.“
**"Meiner Mutter habe ich es aber auch zu verdanken, dass ich aufs Gymnasium gehen und dann studieren konnte. Sie hat es nie ausdrücklich gesagt, aber ich denke, sie sah in mir jemanden, der mit ihrer Hilfe eine Chance wahrnehmen konnte, die ihr selbst verwehrt blieb. Ihre enttäuschten Träume konnten sich durch mich verwirklichen." (S.75)


Weiterführende Links:

Zurück auf Los: Der Literaturclub im Dezember SRF. Teilnehmer: u.a. Elke Heidenreich, Philipp Tingler

Negative Leidenschaften. Mit „Rückkehr nach Reims“ liefert Didier Eribon eine Selbsterkundung aus der Täterperspektive.
Von Christian Mariotte

D. Eribon: Rückkehr nach Reims
Rezensiert für H-Soz-Kult von Onur Erdur, Institut für Kulturwissenschaft, Humboldt-Universität zu Berlin

Ein neuer Geist von ’68
Die Präsidentschaftswahl in Frankreich führt uns vor Augen, in welcher Krise sich das linke Denken befindet. Sie zeigt aber auch, wie wir es erneuern können. Ein Gastbeitrag von Didier Eribon, 18.4.2017

Aktuell:

Die 'Rückkehr nach Reims'wurde in diesen Tagen von Thomas Ostermeier als Theaterstück adaptiert, in Manchester uraufgeführt und soll im September in Berlin auf den Spielplan kommen:




Freitag, 7. Juli 2017

Montag, 3. Juli 2017

Gelesen: Irène Némirovsky "Suite Francaise"


Klappentext:
Über 60 Jahre lag der Roman "Suite francaise", das Vermächtnis der einstigen französischen Starautorin Irene Nemirovsky, in einem Koffer, bis der Zufall dieses Sittengemälde aus den Zeiten des Zweiten Weltkriegs ans Licht brachte. "Suite francaise" erzählt mitten aus dem Krieg - als sei die Zeit angehalten. Der erste Teil "Sturm im Juni" schildert die Zeit im Sommer 1940, als die deutsche Armee vor Paris steht und die Bewohner fluchtartig die Stadt verlassen. Der zweite Teil "Dolce" spielt 1942 in einem von den Deutschen besetzten Dorf in der Provinz. Irene Nemirovsky hält in ihrem Roman Frankreich einen Spiegel vor. Mit luzidem psychologischen Blick beobachtet sie ihre Mitmenschen, beschreibt Niedertracht und Selbstgefälligkeit, Hoffnung und Illusion, Lebensgier und die große Sehnsucht nach Frieden. 

Der erste Teil ("Sturm im Juni") des ursprünglich auf fünf Teile angelegten Werkes, ist eine eindrucksvolle Darstellung des Zusammenbruchs Frankreichs im Frühsommer 1940, der chaotischen Flucht aus dem gefährdeten Paris und dem Zerfall jeglicher sozialen Ordnung und Humanität, dargestellt anhand verschiedener sozialer Phänotypen (die Bankiersfamilie Pericand, die aufrichtigen Michauds, der dekadente Dichter Gabriel Corte und seine Mätresse, der Dandy Langelet). 

Ich musste beim Lesen immer wieder an ein anderes Buch denken, das ich kurz zuvor gelesen habe: Emile Zola, Der Zusammenbruch, das den 1870/71er-Krieg,und vor allem die Schlacht bei Sedan, zum Inhalt hat. Auch bei Zola steht die militärische Niederlage, das völlige Versagen der politischen Führung und der soziale und moralische Verfall führender Gesellschaftsklassen im Mittelpunkt des Romans. Wie Zola ist auch Irène Némirovsky unmittelbar Augenzeuge der Ereignisse und berichtet sozusagen embedded fotografisch genau, geradezu dokumentarisch über das Ausmaß der Katastrophe, die Frankreich innerhalb von 70 Jahren zweimal hinnehmen musste. 

Der 2. Teil, "Dolce", schildert den Alltag und das Zusammenleben von Einheimischen und Besatzern im Jahr nach der Niederlage in einem französischen Dorf in der besetzten Zone.  Am meisten hat mich die nahezu durchweg positive Darstellung der deutschen Besatzer überrascht und gleichzeitig irritiert. Nicht grau-grüne Masse sondern individualisierte Vertreter der Besatzungsmacht werden dem Leser präsentiert, physisch attraktiv, diszipliniert und höflich, und in einem Fall im wahrsten Sinn des Wortes liebenswert.  Dagegen ist die Einstellung gegenüber manchen Einheimischen (hier vor allem in Gestalt der Montorts und Labarins), weiterhin ablehnend. Letzteres resultierte sicher daraus, dass sich Irene L. als emigrierte Russin und Jüdin, trotz ihrer Konversion zum Katholizismus, vom Vichy-Frankreich verraten und verkauft fühlte - und auf grausame Weise Recht bekam in diesem Gefühl.

Irène hat hier sehr bewusst ihr Lebensmotto literarisch umgesetzt, wie man im Anhang des Buches (S.447) lesen kann: 
"Hiermit schwöre ich, daß ich meinen Groll, so gerechtfertigt er sein mag, nie mehr auf eine Masse von Menschen übertragen werde, unabhängig von Rasse, Religion, Überzeugung Vorurteilen, Irrtümern. [...] Individuen dagegen kann ich nicht verzeihen, denjenigen, die mich verstoßen, denjenigen, die uns kaltblütig fallenlassen, denjenigen, die bereit sind, dir gegenüber jede Gemeinheit zu begehen."
I.R. war nicht naiv. Drei Tage zuvor, am 25. Juni 1941, schreibt sie sarkastisch in ihr Notizbuch: "Ich habe meinen Füller verloren. Es gibt noch andere Sorgen wie z.B. drohendes Konzentrationslager, Status der Juden usw." Sie ahnte, was ihr bevorstand.

Was die Faszination angeht, die die jungen Soldaten und Offiziere auch auf I.R. ausübten, die Ästhetisierung des Militärischen, war sie damals nicht alleine auf weiter Flur. Ich erinnere mich noch sehr gut an die schockierende Lektüre von Sartres tagebuchartigem Roman "Der Pfahl im Fleische" in den späten 80er Jahren. Ich hatte die Stelle markiert, die mir so ungeheuerlich vorkam:
"Daniel hörte in der Ferne Militärmusik, es kam ihm vor, als füllte sich der Himmel mit Fahnen, und er musste sich an eine Kastanie lehnen. Allein auf diesem langen Boulevard, einziger Franzose, einziger Zivilist, und die gesamte feindliche Armee sah in an. Er hatte keine Angst, er überließ sich vertrauensvoll diesen Tausenden von Augen, er dachte: Unsere Sieger!', und Wollust umfing ihn. Er erwiderte kühn ihren Blick, er mästete sich an diesen blonden Haaren, diesen wettergebräunten Gesichtern, in denen die Augen wie Gletscherseen wirkten, an diesen schmalen Taillen, diesen unglaublich langen und muskulösen Schenkeln. Er murmelte: 'Wie schön sie sind!'*
(Es gibt vielfältige Äußerungen dieser, oft unverkennbar homo-erotischer Art, wie durch eine französische Studie aus dem Jahr 2010 bekannt wurde; siehe http://www.deutschlandfunk.de/erotische-invasion-der-wehrmacht.691.de.html?dram:article_id=51834  Ich möchte aber darauf hinweisen, dass Sartre keinerlei Sympathie gegenüber den deutschen Besatzern hegte!)
* Jean-Paul Sartre, Der Pfahl im Fleische. Rowohlt, Hamburg, Erste Auflage der Neuübersetzung Februar 1988, S.93

Ein familienbiographischer Schlenker:
Geschichte wiederholt sich ja gerne, und so auch in diesem Fall. In meiner Heimatstadt Rastatt notiert ein katholischer Pfarrer nach dem Einmarsch der französischen Armee im Sommer 1945 notiert:
"Nach wenigen Tagen gab es unter den Frauen und Mädchen genügend "Freiwillige", sodaß die Vergewaltigungen bald nachließen! - Es ist eine vernichtende Verurteilung der vielgeprießenen "Deutschen Ehre", wenn ein geflügeltes Wort unsere Feinde sprechen läßt: "Um den deutschen Soldaten zu besiegen, brauchten wir 6 Jahre; um die deutsche Frau zu besiegen, genügt 1 Tag!". - In ganz würdeloser Weise haben leider auch Frauenpersonen aus unserer Pfarrei sich den Besatzungs-Soldaten " in die Arme geworfen".
Meine Mutter dazu: "Man muss das verstehen: Alle hatten ungeheuren Hunger, nach Brot, nicht unbedingt nach Liebe, und deshalb kam es zu den vielen Kontakten und zu vielen Heiraten zwischen deutschen Frauen und französischen Soldaten. Ich verurteile das nicht."
(Meine Familie blieb von der Fraternisation  ebenfalls nicht unberührt, wie ich schon im Blog vom 12. Mai schrieb: http://reinerw.blogspot.de/2017/05/la-france-franzosisch-and-me-eine.html) 


Alles in Allem: Das Buch ist, obwohl im zweiten Teil als Liebesgeschichte verpackt, verstörend, weil die Autorin Klischees vermeidet und selbst bei den Besatzern Menschlichkeit sieht, und es ist tragisch, weil ihr das letztlich nichts genützt hat. Sie wurde von dem gleichen System ermordet, in dem sie nur Individuen erkennen wollte – fast genau ein Jahr nach dem chronologischen Ende des Romans.

Biographische Notiz
Irène Némirovsky wurde am 12. Juni 1942 verhaftet und starb am 17. August 1942 in Auschwitz-Birkenau an Entkräftigung.
Ihr Mann Michel Epstein wurde unter der Vichy-Regierung im Oktober 1942 verhaftet und am 6. November von Drancy nach Auschwitz deportiert und sofort ermordet.
Mehr bei Wikipedia:
https://de.wikipedia.org/wiki/Ir%C3%A8ne_N%C3%A9mirovsky
Zu den beiden Romanen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Suite_fran%C3%A7aise

Der Roman wurde 2014 von Saul Dibb verfilmt: Suite française - Melodie der Liebe