Klappentext
"Als sein Vater stirbt, reist Didier Eribon zum ersten Mal nach Jahrzehnten in seine Heimatstadt. Gemeinsam mit seiner Mutter sieht er sich Fotos an – das ist die Ausgangskonstellation dieses Buchs, das autobiografisches Schreiben mit soziologischer Reflexion verknüpft. Eribon realisiert, wie sehr er unter der Homophobie seines Herkunftsmilieus litt und dass es der Habitus einer armen Arbeiterfamilie war, der es ihm schwer machte, in der Pariser Gesellschaft Fuß zu fassen. Darüber hinaus liefert er eine Analyse des sozialen und intellektuellen Lebens seit den fünfziger Jahren und fragt, warum ein Teil der Arbeiterschaft zum Front National übergelaufen ist. Das Buch sorgt seit seinem Erscheinen international für Aufsehen. So widmete Édouard Louis dem Autor seinen Bestseller Das Ende von Eddy."
Insgesamt war die Lektüre für mich zwiespältig: Einerseits stört mich ein larmoyanter (vor allem in den Kapiteln I.2 und II.4), streckenweise arroganter Ton (S.80) und eine für einen Soziologen auffallend konfuse Begriffsbildung für ein und dieselbe soziale Gruppe: Arbeiterklasse, untere Schichten, populäre Klassen, populäre Milieus (S.37) etc. Auch die theoretischen Exkurse in Abschnitt IV zu Bourdieu etc. sind für mich wenig ergiebig.
Andererseits fasziniert mich seine präzise und durchaus schonungslose Beschreibung des sozialen Milieus im Vor- und Nachkriegs-Reims und dessen Wandel, aus dem Eribon entstammt. Es ist die Biographie eines 'Klassenflüchtlings', seiner Eltern und Großeltern.
Wie gelang Eribon der Ausbruch aus diesem Milieu? Wie gelang ihm der Aufstieg vom schwulen Unterschichtskind zum Intellektuellen? Was waren fördernde, was hemmende Faktoren beim Auf- und Ausstieg?
In den Mittelpunkt seiner „Rückkehr nach Reims“ stellt Eribon eine andere Frage:
"In meiner Kindheit [...] ist meine gesamte Familie 'kommunistisch' gewesen [...]. Wie konnte es dazu kommen, dass man in derselben Familie wenig später rechte oder rechtsextreme Parteien wählte und dies sogar manchmal als die 'natürliche' Wahl empfand?" (S.117)
Eribon gibt 2 Antworten:
"Hätte man aus dem, was tagtäglich in meiner Familie gesprochen wurde, ein politisches Programm stricken wollen, es wäre, obwohl man hier links wählte, dem der Rechtsextremen wohl ziemlich nahe gekommen." (S.133)
und
"Vielleicht ist das Band zwischen der 'Arbeiterklasse' und der Linken gar nicht so natürlich, wie man gerne glaubt. Vielleicht handelt es sich dabei einfach um das Konstrukt einer bestimmten Theorie (des Marxismus), die alle anderen Theorien ausgestochen hat und bis heute unsere Wahrnehmung der sozialen Welt sowie unsere politischen Kategorien bestimmt." (S.141)
Das ist eine spannende Frage mit zwei bitteren Antworten - leider nimmt Eribon seine Antworten selbst zu wenig ernst.
Liest man Eribons Familiengeschichte, so fällt auf, dass der politische Wechsel von Links nach Rechts eine verblüffende und gleichzeitig verstörende Konstante hat: Es ging und geht immer noch um den Gegensatz: „Wir gegen Sie“ (S.39; S.137f). Nur das Gegenüber hat sich im 21. Jahrhundert geändert, nicht die Konstellation. Statt gegen 'die da oben' nun gegen 'die da unten'. Der Klassenhass wird durch den Rassenhass ersetzt.
Eribon will das aber nicht zur Kenntnis zu nehmen.
Für ihn ist der Wechsel von Links nach Rechts Ergebnis des Umschwenkens der 'Linken' ins neoliberale Lager, des Verrats der Linken an der Arbeiterklasse, ihrer „Modernisierung“, wie er auch in Interviews immer wieder betont*. Der Wechsel ist für ihn nicht Ergebnis sozialer Veränderungen vor Ort, oder des Gegensatzes Zentrum-Peripherie in Frankreich, oder gar Ergebnis einer partiellen Maghrebisierung der französischen Gesellschaft. Es ist für mich bezeichnend, dass der Siegeszug des FN im Süden Frankreichs begonnen hat und nicht im detindustrialisierten Norden.
Nur die Rückkehr der Linken, insbesondere der Parti Socialiste PS, zu ihren alten politischen Ideen und Konzepten könne eine erfolgversprechende Strategie gegen den Aufstieg des FN sein und die Gesellschaft dem Heil wieder näher bringen, so Eribon.
Damit hängt er aber einem marxistischen Denken an, das in den 70er Jahren populär war und in intellektuellen Kreisen Frankreichs vermutlich noch immer populär ist. Zur Gegenwartsanalyse trägt dies jedoch nichts Überzeugendes bei und ist in meinen Augen nur noch lächerlich. Den ‚Neoliberalismus‘ für alles verantwortlich zu machen, was schief läuft, zeugt von Denkfaulheit und nicht von marxistischer Analyse.
Ich setze eine steile These dagegen:
Ursache für den politischen (nicht kulturellen, denn kulturell war die Arbeiterklasse schon immer konservativ bis rechts) Rechtsschwenk der 'Arbeiterklasse' ist nicht der Popanz 'Neoliberalismus' und die damit verbundene soziale Ausgrenzung einer ganzen Bevölkerungsgruppe, sondern in erster Linie der soziale Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft, die Auflösung des sozialen Milieus der politisch gebildeten Industriearbeiterschaft und damit einhergehend die Ausdünnung der politischen Vertreter der Arbeiterklasse durch sozialen Aufstieg.
Früher war die Arbeiterbewegung auch eine Arbeiterbildungsbewegung mit Lesekreisen, Buchgenossenschaft, Fortbildungsveranstaltungen, Kulturvereinen etc. Sie umfasste nicht nur ein breites Spektrum an Freizeitaktivitäten sondern bot auch Hilfe und Unterstützung in allen Lebenslagen an. In diesem Milieu war sozialer Aufstieg möglich als Gewerkschaftsfunktionär, Parteisoldat, Lokal- und Regionalpolitiker (in Deutschland zusätzlich: Funktionär bei Sozialverbänden wie AWO, VdK etc.), möglich, d.h. Bildung führte früher zum Aufstieg als Funktionär innerhalb der Klasse.
Die Auflösung des sozialen Milieus, die Vereinzelung ihrer ehemaligen Angehörigen und ihre 'Verbürgerlichung', wie Eribon S.79 beklagt, hervorgerufen die im Vergleich zur Vorkriegszeit höheren Einkommen und verbesserten Konsummöglichkeiten und - nicht zu unterschätzen - die Einflüsse der Kulturindustrie in Form des Fernsehens als Leitmedium, haben nicht nur zur Auflösung der traditionellen Kultur- und Freizeiteinrichtungen geführt, sondern auch dazu, dass heute eine Karriere als Funktionär weder attraktiv noch möglich ist. Sozialer Aufstieg durch Bildung ist heute nur noch möglich durch Ausstieg aus der sozialen Klasse.
In der Vorkriegszeit und noch danach wäre Eribon wahrscheinlich Partei- oder Gewerkschaftsfunktionär geworden und irgendwann vielleicht sogar in Paris angekommen. In der Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs der 60er Jahre wurde er zunächst Student, dann Hochschullehrer und landete auf diesem Weg in Paris bzw. heute in Amiens.
Zurück bleibt eine verunsicherte, sich bedroht fühlende Gesellschaftsschicht, die keine akzeptierten Ansprechpartner mehr hat, sondern zur Beute von Extremisten wird, die ihre Ängste aufnimmt, die zwar nicht MIT ihr spricht, aber ZU ihr und das Gefühl vermittelt: Hier werden meine Ängste ausgesprochen, hier sind wir ‚chez nous‘. Donald Trump und Marine Le Pen, die sich in ihrer Demagogie wie ein Ei dem anderen gleichen, haben dies exemplarisch vorgeführt.
Die Beschwörung vergangener glorreicher Zeiten einer dominanten Linken und die Rückbesinnung auf deren Ideen wird diese Entwicklung nicht aufhalten können. Auch das haben die letzten Wahlen in Frankreich gezeigt.
Für mich ist ein weiterer Aspekt des Buches unbefriedigend: die kaum reflektierte Rolle der Bildung beim sozialen Aufstieg vom Arbeiterkind zum Intellektuellen. Einerseits kritisiert Eribon den Klassencharakter des franz. Gesamt(!)schulsystems, andererseits betont er, "die schulische Selektion basiert oft auf Selbstexklusion und Selbsteliminierung, die Betroffenen reklamieren ihren Ausschluss als Resultat ihrer eigenen Wahlfreiheit" (S.44), ohne zu sehen, dass der erste Satz im Widerspruch zum zweiten steht.
Da er offensichtlich von diesem Schulsystem profitiert hat, hätte ich von ihm als Soziologen erwartet, dass er sich mehr mit der Frage auseinandersetzt, warum ihm dieser Aufstieg möglich war, seinem fast gleichaltrigen Bruder aber nicht. Die Andeutungen zur Rolle seiner Mutter in diesem Prozess sind mir zu dürftig,** und seine eigene Erklärung, dass dies nur in Abgrenzung zum eigenen Milieu möglich war, erklärt letztlich nichts.
Insgesamt ist das Buch von Didier Eribon also eine verstörende, aber auch zwiespältige Lektüre mit vielen spannenden Fragen, aber leider ohne befriedigende Antworten.
Anmerkungen / Links:
* So zuletzt im Interview "Der Zeitgeist ist faschistoid" vom 6.4.2017:
„In den 80er-Jahren war die Kommunistische Partei quasi verschwunden und die sozialdemokratischen Linken wollten sich modernisieren. Bei diesem Prozess wurden alle Ideen und Diskurse zu Unterdrückung und Klassenkampf aufgegeben. Eigentlich alles, was bisher die Linke charakterisierte. Die Unterschiede zwischen Marx und Tocqueville, zwischen Jean-Paul Sartre und Raymond Aron usw. gab es nicht mehr. Die Linken haben einfach den Neoliberalismus übernommen.Es gab auf einmal keine "Arbeiterklasse" mehr, sondern "Verlierer der Globalisierung". Die Feinde waren nicht mehr die Besitzer und die Bourgeoisie, sondern die Privilegierten und die Migranten. Das Vokabular hat sich verändert, und damit auch die Wahrnehmung der Realität und schließlich die Wahl: Die Linken haben die Probleme der Unterschichten vernachlässigt, ihre Wählerschaft hat sie für den Front National verlassen. Dies geben viele linke Intellektuelle ungern zu. Ein solcher Wandel zeigt nämlich, dass es keine natürliche Verbundenheit zwischen den Unterschichten und den Linken gibt. Besser ist es aber, eine Realität anzuerkennen, um sie analysieren und eventuell ändern zu können.“
**"Meiner Mutter habe ich es aber auch zu verdanken, dass ich aufs Gymnasium gehen und dann studieren konnte. Sie hat es nie ausdrücklich gesagt, aber ich denke, sie sah in mir jemanden, der mit ihrer Hilfe eine Chance wahrnehmen konnte, die ihr selbst verwehrt blieb. Ihre enttäuschten Träume konnten sich durch mich verwirklichen." (S.75)
Weiterführende Links:
Zurück auf Los: Der Literaturclub im Dezember SRF. Teilnehmer: u.a. Elke Heidenreich, Philipp Tingler
Negative Leidenschaften. Mit „Rückkehr nach Reims“ liefert Didier Eribon eine Selbsterkundung aus der Täterperspektive.
Von Christian Mariotte
D. Eribon: Rückkehr nach Reims
Rezensiert für H-Soz-Kult von Onur Erdur, Institut für Kulturwissenschaft, Humboldt-Universität zu Berlin
Ein neuer Geist von ’68
Die Präsidentschaftswahl in Frankreich führt uns vor Augen, in welcher Krise sich das linke Denken befindet. Sie zeigt aber auch, wie wir es erneuern können. Ein Gastbeitrag von Didier Eribon, 18.4.2017
Aktuell:
Die 'Rückkehr nach Reims'wurde in diesen Tagen von Thomas Ostermeier als Theaterstück adaptiert, in Manchester uraufgeführt und soll im September in Berlin auf den Spielplan kommen: