In einem der letzten Beiträge hier habe ich über einen neuen Trend unter den Pariser Restaurants berichtet: Man nennt sich jetzt nicht mehr Bistro, wie in früheren Jahren - und schon gar nicht Restaurant, sondern Bouillon Dingsda. Inzwischen gibt es laut Google (mindestens) zwanzig dieser neu-alten Suppenküchen aus der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert.
Das ehemals einfache, aber in den letzten Jahren auch hoffnungslos überfüllte Belle Époque-Restaurant "Chartier" in der Rue du Faubourg Montmartre heißt seit 20019 ebenfalls so wie einst bei seiner Gründung "Bouillon", ergänzt durch den Zusatz Chartier Grands Boulevards. (Es gibt noch ein weiteres Bouillon Chartier am linken Seineufer.)
Am 7. April führe ich ihn in ein unter uns jungen Leuten (jedenfalls fühlte ich mich damals noch so) extrem angesagtes Restaurant in Paris: das Chartier. Es liegt unweit der Grands Boulevards in der Rue du Faubourg-Montmartre und ist im klassischen Art-Déco-Stil gehalten (oder ist es "Art Nouveau"?). Und was besonders attraktiv ist: Es ist extrem billig. Nicht nur für Franzosen, sondern vor allem für deutsche Touristen, denn der Wechselkurs lag damals bei etwa 1 FFR=0,30 DM lag.
Wir betreten das Lokal gegen Mittag und ich bin irritiert - es ist völlig leer. Die wenigen Gäste verlieren sich im Erdgeschoss und auf der Galerie.
Der Kellner, traditionell gekleidet mit langer Schürze, ist überrascht und geradezu begeistert, als ich das Menu Suggestion bestelle und zwar mit Rosbeef als Hauptgang. (Mein Sohn bestellt Würstchen.)
Was ist los? Wir schreiben das Jahr 1994 - das Jahr, in dem die so genannte "BSE-Krise" in Europa ihren Höhepunkt erreicht. Niemand isst Rindfleisch, nur ein deutscher Tourist in Paris. Die deutsch-französische Freundschaft erreicht hier wohl einen unerwarteten Höhepunkt. (Wobei: das Essen war eher bescheiden, dem Preis angemessen).
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Viele Jahre später besuche ich mit Sabine wieder das Lokal - und die Erfahrung ist eine ganz andere. Obwohl wir sehr früh am Abend kommen, ist das Lokal schon voll. Der Service ist hektisch, das Essen nach wie vor recht anspruchslos, die Preise deutlich überzogen und kaum haben wir den Kaffee zum Nachtisch bestellt, wird uns auch schon die Rechnung serviert und signalisiert, dass wir unsere Plätze räumen sollen.
Vor dem Lokal eine lange Schlange geduldig wartender Menschen, die sich durch den langen Gang in Form einer typischen Pariser Passage bis um die Ecke in die Rue du Faubourg-Montmartre zieht. Touristen wie wir.
Adieu Chartier. Adieu Bouillon Chartier Grands Boulevards.