Freitag, 11. November 2022
Mittwoch, 9. November 2022
Annie Ernaux: Literarische Bedeutung (2001)
Ich habe mich bereits an anderer Stelle darüber mokiert, dass man im deutschen Feuilleton den Eindruck vermittelt, als ob Annie Ernaux eine aufsehenerregende Entdeckung der letzten 10 Jahre sei, obwohl die ersten deutschen Übersetzungen doch bereits in den 80er Jahren erschienen.
Mein Eindruck erhärtet sich durch eine Publikation deutscher Romanististinnen und Germanistinnen aus dem Jahr 2001, wo alles gesagt wurde, was man über Annie Ernaux wissen muss; und sogar ohne die Vokabel "Scham" zu strapazieren.
“Das Werk der 1940 in der Normandie geborenen Ernaux ist stark autobiographisch geprägt und kreist um Probleme des Identitätsverlustes und der Entfremdung. Ihre Eltern, die Arbeiter waren und ein Lebensmittelgeschäft mit Café unterhielten, ermöglichten ihr das Studium der Literaturwissenschaft in Paris. Ihre ersten drei Romane - Les armoires vides, 1974 [Die leeren Schränke], Ce qu'ils disent ou rien, 1977 [Was sie sagen oder nichts] und La femme gelée, 1981 [Die erstarrte Frau] - befassen sich mit der Schul- und Studienzeit, der Pubertät, den sexuellen Erfahrungen und der Ehe einer durch ihre soziale Herkunft gezeichneten Ich-Erzählerin. Sie vollziehen die Initiation einer Arbeitertochter in eine fremde und entfremdende Kultur nach, die ihr das Gefühl vermittelt, anders und minderwertig zu sein. Die Romane enthalten zwei gegenläufige Reflexionen über die Sprache. Zum einen geht es um die versuchte Selbstbefreiung aus dem Milieu durch Bildung, zum anderen wird die repressive Macht einer literarischen Wunderwelt entlarvt, die bürgerliche Lebensvorstellungen transportiert und die Ich-Erzählerin ihrer Entscheidungsfreiheit beraubt. Diese autobiographischen Bildungsromane enthalten neben der klassischen Aufstiegsgeschichte bereits die Kritik an der dominierenden Kultur und den Versuch, die verlorene Sprache des eigenen Milieus wiederzufinden.
Nach dieser Trilogie der Entfremdung sind die jeweils dem Vater und der Mutter gewidmeten Rückblicke La place, 1983 (Das bessere Leben, 1986) und Une femme, 1987 (Das Leben einer Frau, 1993) durch die Rekonstruktion bestimmter Gewohnheiten, Reaktionen und Redeweisen mosaikartige Annäherungen an die Herkunft und Lebensgeschichte der Eltern. Ernaux' gleichsam ethnologisches Anliegen ist es, das Private zu erfassen, die „Falle des Individuellen aber zu umgehen, indem sie die Lebensberichte als Teile eines kollektiven Schicksals verstehbar macht, worauf auch die Titel verweisen.”
Roswitha Böhm: Annie Ernaux. Von Glück und Entfremdung. In: Petra Metz/Dirk Naguschewski (Hrsg.), Französische Literatur der Gegenwart. Ein Autorenlexikon. Beck Verlag, München 2001, S.87
Biographische Notiz zu Roswitha Böhm: Siehe Wikipedia