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Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Kommentar von Hauke Brunkhorst, suhrkamp, Frankfurt am Main, 2.Auflage 2017 |
Zwei Zitate aus dem ‘Achtzehnten Brumaire’ sind vielen politisch Interessierten bekannt, auch wenn sie sonst nichts von Marx gelesen haben:
"Hegel bemerkt irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Thatsachen und Personen sich so zu sagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce."und
"Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller todten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden."Letzteres wird gerne als Essenz eines marxistischen Geschichtsbildes benutzt.
Zum ersten Mal habe ich das Buch vor vierzig Jahren im Rahmen eines soziologischen Seminars bei Helmut Dahmer gelesen. Das Thema war “Faschismusanalysen”. Der marxistische Theoretiker August Thalheimer sah, zurückgehend auf Karl Marx' "Achtzehnten Brumaire", im Bonapartismus, der verselbstständigten Staatsmacht der Exekutive, einen sinnvollen Ansatz zur Analyse faschistischer Bewegungen der Zwischenkriegszeit im 20. Jahrhundert - und wir im Seminar auch.
Aber auch darüber hinaus hatte die Lektüre einen gewissen Reiz, denn Marx spricht in dieser Schrift Grundzüge einer Klassenanalyse an - und überhaupt ist Marx ein polemischer Stilist ersten Ranges. Selbst wer sich nicht unbedingt in die Details französischer Geschichte zwischen 1848 und 1852 einarbeiten will wird immer wieder Stellen von treffender Polemik finden, die das Lesen zum Vergnügen machen. Ganz abgesehen von Formulierungen (s.o.), die zum Zitatenschatz eines politisch gebildeten Lesers gehören (sollten).
Worin liegt die überragende Bedeutung des Buchs? Ich fasse anhand des umfangreichen und lesenswerten Kommentars von Hauke Brunkhorst (S.138 - 143) zusammen:
”Der Achtzehnte Brumaire ist erstens zu einem Wegbereiter der soziologischen und historischen Revolutionstheorie des 20. Jahrhunderts geworden.”
“Zweites ist der Achtzehnte Brumaire vor allem deshalb ein immer noch aktuelles Werk, weil sein Thema der Umschlag von Revolution in Konterrevolution und Autoritarismus ist.”
“Der Achtzehnte Brumaire ist drittens nicht nur für Geschichtsschreibung, Soziologie und politische Theorie, sondern auch für die Verfassungstheorie und die Theorie der parlamentarischen Demokratie ein klassischer, also immer noch aktueller Text”, weil er die “Verschränkung von von Staats- und Verfassungsrecht mit der Gesellschaft und ihrer politischen Ökonomie” aufzeigt.” Und
“Viertens wird der Achtzehnte Brumaire seit geraumer Zeit von postmodernen, poststrukturalistischen und postmarxistischen Autoren neu entdeckt” - ein Aspekt, den ich nicht nachvollziehen konnte und der mich auch nicht interessiert.Überraschend war für mich jedoch ein anderer Aspekt, der mich seit geraumer Zeit umtreibt: die kulturelle und politische Spaltung Frankreichs in Zentrum (Paris) und Peripherie (Provinz), die Marx schon im 19. Jahrhundert als konstitutiv und problematisch für die Entwicklung des Landes sah, und der Dualismus der französischen Verfassung damals und heute, die ein gewähltes Parlament einem vom Volk gewählten Präsidenten gegenüberstellt, also zwei Volkswillen installiert, die in Konkurrenz zueinander stehen. Marx beschreibt das so:
"Während jeder einzelne Volksrepräsentant nur diese oder jene Partei,Am 18. Brumaire (9.November) 1851 endete dieser Dualismus mit dem Staatsstreich des vom Volk gewählten Präsidenten, der die Nationalversammlung auflöst und sich ein Jahr später mit Unterstützung durch ein Plebiszit zum Kaiser ernennen lässt.
diese oder jene Stadt, diesen oder jenen Brückenkopf oder auch nur die Noth¬
wendigkeit vertritt, einen beliebigen Siebenhundertundfünfzigsten zu wählen,
bei dem man sich weder die Sache noch den Mann so genau ansieht, ist Er
der Erwählte der Nation und der Akt seiner Wahl ist der große Trumpf, den
das souveräne Volk alle 4 Jahre einmal ausspielt. Die erwählte National¬
versammlung steht in einem metaphysischen, aber der erwählte Präsident in
einem persönlichen Verhältniß zur Nation. Die Nationalversammlung stellt
wohl in ihren einzelnen Repräsentanten die mannigfaltigen Seiten des
Nationalgeistes dar, aber in dem Präsidenten inkarnirt er sich. Er besitzt
ihr gegenüber eine Art von göttlichem Recht, er ist von Volkesgnaden."
In der derzeitigen französische Verfassung ist dieser Dualismus wieder enthalten und kulminiert im Recht des Staatspräsidenten, jederzeit die Nationalversammlung auflösen und Neuwahlen ansetzen zu können, wenn das Parlament seinen politischen Willen nicht umsetzen will. Die Verfassung provoziert dadurch im Konfliktfall politische Instabilität und lädt zur autoritären Staatsführung geradezu ein: Das Volk in Person des Präsidenten kann jederzeit gegen das Volk in Gestalt der Nationalversammlung in Stellung gebracht werden.
Aktuell: Wird es Macron gelingen, die Spaltung des Landes zu überbrücken? Und was wird er machen, wenn ihm das nicht gelingt und eines Tages seine heterogene “République en Marche” zerfällt? Manche werfen ja schon heute Macron vor, seine Politikführung zeige imperiale Züge. Marx hätte sicher seine Freude an dieser Konstellation gehabt.
Nach vierzig Jahren das Buch von Karl Marx neu zu lesen war mühsam, hat aber letzten Endes doch wieder viel Spaß gemacht. Marx versteht zu bilden UND zu unterhalten.
Links:
Wikipedia: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte
Wikipedia: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte
Zusammenfassung bei Zeit Online: Klick
Originaltext bei Google Books: Klick
Digitale Originalausgabe, 2.Auflage 1869: Klick