Sonntag, 13. Mai 2018

Wieder gelesen: Karl Marx

Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Kommentar von Hauke Brunkhorst,
suhrkamp, Frankfurt am Main, 2.Auflage 2017

Zwei Zitate aus dem ‘Achtzehnten Brumaire’ sind vielen politisch Interessierten bekannt, auch wenn sie sonst nichts von Marx gelesen haben:
"Hegel bemerkt irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Thatsachen und Personen sich so zu sagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce."
und
"Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller todten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden."
Letzteres wird gerne als Essenz eines marxistischen Geschichtsbildes benutzt.

Zum ersten Mal habe ich das Buch vor vierzig Jahren im Rahmen eines soziologischen Seminars bei Helmut Dahmer  gelesen. Das Thema war “Faschismusanalysen”. Der marxistische Theoretiker August Thalheimer sah, zurückgehend auf Karl Marx' "Achtzehnten Brumaire", im Bonapartismus, der verselbstständigten Staatsmacht der Exekutive, einen sinnvollen Ansatz zur Analyse faschistischer Bewegungen der Zwischenkriegszeit im 20. Jahrhundert - und wir im Seminar auch. 

Aber auch darüber hinaus hatte die Lektüre einen gewissen Reiz, denn Marx spricht in dieser Schrift Grundzüge einer Klassenanalyse an - und überhaupt ist Marx ein polemischer Stilist ersten Ranges. Selbst wer sich nicht unbedingt in die Details französischer Geschichte zwischen 1848 und 1852 einarbeiten will wird immer wieder Stellen von treffender Polemik finden, die das Lesen zum Vergnügen machen. Ganz abgesehen von Formulierungen (s.o.), die zum Zitatenschatz eines politisch gebildeten Lesers gehören (sollten).

Worin liegt die überragende Bedeutung des Buchs? Ich fasse anhand des umfangreichen und lesenswerten Kommentars von Hauke Brunkhorst (S.138 - 143) zusammen:
”Der Achtzehnte Brumaire ist erstens zu einem Wegbereiter der soziologischen und historischen Revolutionstheorie des 20. Jahrhunderts geworden.” 
“Zweites ist der Achtzehnte Brumaire vor allem deshalb ein immer noch aktuelles Werk, weil sein Thema der Umschlag von Revolution in Konterrevolution und Autoritarismus ist.” 
“Der Achtzehnte Brumaire ist drittens nicht nur für Geschichtsschreibung, Soziologie und politische Theorie, sondern auch für die Verfassungstheorie und die Theorie der parlamentarischen Demokratie ein klassischer, also immer noch aktueller Text”, weil er die “Verschränkung von von Staats- und Verfassungsrecht mit der Gesellschaft und ihrer politischen Ökonomie” aufzeigt.” Und 
“Viertens wird der Achtzehnte Brumaire seit geraumer Zeit von postmodernen, poststrukturalistischen und postmarxistischen Autoren neu entdeckt”  - ein Aspekt, den ich nicht nachvollziehen konnte und der mich auch nicht interessiert.
Überraschend war für mich jedoch ein anderer Aspekt, der mich seit geraumer Zeit umtreibt: die kulturelle und politische Spaltung Frankreichs in Zentrum (Paris) und Peripherie (Provinz), die Marx schon im 19. Jahrhundert als konstitutiv und problematisch für die Entwicklung des Landes sah, und der Dualismus der französischen Verfassung damals und heute, die ein gewähltes Parlament einem vom Volk gewählten Präsidenten gegenüberstellt, also zwei Volkswillen installiert, die in Konkurrenz zueinander stehen. Marx beschreibt das so:
"Während jeder einzelne Volksrepräsentant nur diese oder jene Partei,
diese oder jene Stadt, diesen oder jenen Brückenkopf oder auch nur die Noth¬
wendigkeit vertritt, einen beliebigen Siebenhundertundfünfzigsten zu wählen,
bei dem man sich weder die Sache noch den Mann so genau ansieht, ist Er
der Erwählte der Nation und der Akt seiner Wahl ist der große Trumpf, den
das souveräne Volk alle 4 Jahre einmal ausspielt. Die erwählte National¬
versammlung steht in einem metaphysischen, aber der erwählte Präsident in
einem persönlichen Verhältniß zur Nation. Die Nationalversammlung stellt
wohl in ihren einzelnen Repräsentanten die mannigfaltigen Seiten des
Nationalgeistes dar, aber in dem Präsidenten inkarnirt er sich. Er besitzt
ihr gegenüber eine Art von göttlichem Recht, er ist von Volkesgnaden."
Am 18. Brumaire (9.November) 1851 endete dieser Dualismus mit dem Staatsstreich des vom Volk gewählten Präsidenten, der die Nationalversammlung auflöst und sich ein Jahr später mit Unterstützung durch ein Plebiszit zum Kaiser ernennen lässt.

In der derzeitigen französische Verfassung ist dieser Dualismus wieder enthalten und kulminiert im Recht des Staatspräsidenten, jederzeit die Nationalversammlung auflösen und Neuwahlen ansetzen zu können, wenn das Parlament seinen politischen Willen nicht umsetzen will. Die Verfassung provoziert dadurch im Konfliktfall politische Instabilität und lädt  zur autoritären Staatsführung geradezu ein: Das Volk in Person des Präsidenten kann jederzeit gegen das Volk in Gestalt der Nationalversammlung in Stellung gebracht werden.
Aktuell: Wird es Macron gelingen, die Spaltung des Landes zu überbrücken? Und was wird er machen, wenn ihm das nicht gelingt und eines Tages seine heterogene “République en Marche” zerfällt?  Manche werfen ja schon heute Macron vor, seine Politikführung zeige imperiale Züge. Marx hätte sicher seine Freude an dieser Konstellation gehabt.


Nach vierzig Jahren das Buch von Karl Marx neu zu lesen war mühsam, hat aber letzten Endes doch wieder viel Spaß gemacht. Marx versteht zu bilden UND zu unterhalten.

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Dienstag, 1. Mai 2018

Gelesen: Nathalie Quintane - Wohin mit den Mittelklassen?

Nathalie Quintane: "Wohin mit den Mittelklassen?" Matthes & Seitz, 116 Seiten, 12 Euro.
(Als Kindle-Edition 7,99€)

Warum die Franzosen so gute Bücher schreiben...
darüber hat Iris Radisch ein Buch geschrieben, das überzeugend eine Antwort gibt und das sich unbedingt lohnt zu lesen (siehe meinen Post dazu).

Aber warum sie so schlechte Essays schreiben, dazu habe ich noch nichts gefunden. Bei Eribon kann man nachlesen, wie ein schlechter Essay funktioniert: Soziologische Theoreme vermischt mit Larmoyanz und Größenwahn ergeben eine Mischung, die den Kassenerfolg fast garantiert, aber leider Übelkeit hervorruft, wenn man zuviel davon konsumiert.

Nathalie Quintane hat eine neue Variante ins Spiel gebracht: Unverstandenes wird mit Abgestandenem so lange zu einem Brei verkocht, bis er ungenießbar ist und nur noch ausgekotzt werden kann. Und darin hat sie zweifellos eine gewisse sprachliche Originalität entwickelt, wie ihr Buch: "Wohin mit den Mittelklassen” zeigt.

Die Kritik an den Mittelklassen, den Mittelschichten, dem Mittelstand oder, geläufiger und prägnanter, am Kleinbürgertum ist allerdings ein alter Hut, insbesondere in der Form der Selbstkritik von Angehörigen dieser - unserer - sozialen Gruppe. In der Regel erschöpft sich die Selbstkritik jedoch in einer beliebigen Konsumkritik und in der Verachtung kultureller Massenware; in den 50er und 60er Jahren gerne als Kritik am TV-Konsum. Dabei galt schon immer die Regel:
"Der Kleinbürger will alles, nur nicht Kleinbürger sein. Seine Identität versucht er nicht dadurch zu gewinnen, daß er sich zu seiner Klasse bekennt, sondern dadurch, daß er sich von ihr abgrenzt, daß er sie verleugnet. Was ihn mit seinesgleichen verbindet, gerade das streitet er ab. Gelten soll nur, was ihn unterscheidet: der Kleinbürger, das ist immer der andere." (Enzensberger, 1982, S.199)
Dem hat Nathalie Quintane leider überhaupt nichts Neues hinzugefügt, lediglich die Produktnamen ändern sich bei der Konsumkritik, aber nicht die Produkte.

Was das Buch aber wirklich ärgerlich macht ist die Tatsache, dass die Autorin weder rechnen kann noch in der Lage ist, einen Gedanken, der über die wohlfeile Kritik an der eigenen Klasse hinausgeht, in verständlichen Sätzen zu formulieren:
Man kann die Vorstellung, die man sich von der Mittelklasse macht, auf einen Haufen Zahlen verkürzen. Dabei geht man von einem Durchschnittseinkommen aus, sodass die Hälfte der Lohnempfänger mehr verdient und die andere Hälfte weniger. Um diese Zahlen etwas konkreter zu machen, sagen wir, die Kohle, die die Mittelklasse verdient, liegt zwischen 70 und 150 Prozent des Mittelwerts: »Das ergibt Nettogehälter zwischen 1200 und 1840 Euro pro Person bei Vollzeitbeschäftigung.« Wenn 70 Prozent des mittleren Einkommens gleich 1200 € sind, erhält man einen MW von 1560 €”.
Stimmt leider nicht, und weder der Übersetzerin noch dem Lektorat (gibt es das noch?), ist das aufgefallen.
(Auch ist nicht der "Mittelwert" des Einkommens gemeint, sondern der Median, das ist allerdings der fehlerhaften Übersetzung geschuldet, denn im Original heißt es korrekt 'salaire médiane'.)
Auch an anderer Stelle beweist sie nachdrücklich, dass sie mit Zahlen und Statistiken nicht so richtig befreundet ist:
“Das Modell des Heißluftballons veranschaulicht die Verteilung der sozialen Klassen zwischen 1955 und 1975, das heißt zu einer Zeit, da ein Arbeiter neunundzwanzig Jahre brauchte, um den Lebensstandard einer oberen Führungskraft zu erreichen”
Wenn Sie in diesem Satz irgend einen Sinn erkennen, sind Sie bei Natalie Quintane gut aufgehoben, ansonsten werden Sie, wie ich, spätestens an dieser Stelle bereut haben, 7,99€ für die Kindle-Edition ausgegeben zu haben.
Stilistisch hat die Autorin ebenfalls Überraschendes zu bieten:
Die Mittelklassen verpesten die Luft, und sie verpesten sie, weil sie kastriert sind: Denn genau das werden die Mittelklassen von selbst über sich selbst denken, wenn alles so weitergeht.”
Müsste es nicht konsequent heißen: “wenn alles von selbst so weitergeht”?
Und
“Zum Schluss noch etwas, das sowohl einer Kurve als auch einem Bild gleicht: das »Treppenförmige«. Das »Treppenförmige« verlockt dazu, die Mittelklasse so wahrzunehmen, wie sie sich selbst sieht, in einer Linie nämlich, die einer Empfindung entspricht und dem versuchten Erklimmen eines Hochhauses mit einem Fahrstuhl ähnelt, der Macken hat und in regelmäßigen Abständen absackt und unser Herz stehenbleiben lässt, um dann umso verlässlicher wieder anzuziehen und damit wieder etwas Hoffnung zu schüren."
Ach ja, die Linie als Empfindung in einem Fahrstuhl, treppenförmig. Das ist Dada pur.
Es gibt weitere Stilblüten:
"Es ist natürlich unmöglich, nur den Ingenieuren, Technikern und höheren Angestellten die Schuld daran zu geben, dass sie den Weg für einen Weg geebnet haben, der bereits durch das geebnet war, was die gesamte Gesellschaft [...] wünschte."
Und:
"Natürlich möchte ich weder, dass die Mittelklasse verschwindet - das besorgt sie schon selbst - noch dass die Werte der Mittelklasse verschwinden - doch sie hat hat gar keine anderen ..."
Muss man das verstehen?

Man kann es so sehen wie Frau Eisenmann im Deutschlandfunk vom 12.3.2018:
“Ein kleines kluges Buch über die heutige Klassengesellschaft. “ [...]  Denn es ist diese aus dem Geist der Literatur geborene Subjektivität und Freiheit des Denkens, frei von akademischen und anderen Gemeinplätzen, die ihren Essay so anregend macht.”
Für mich ist das Buch eher ein gelungener Beweis für die These: “Je weniger Ahnung jemand von einer Sache hat, desto sicherer ist sein Urteil darüber”. Frau Eisenmann und Frau Quintane können sich die Hand reichen.

Wie kommt es dann, dass sich diese wunderliche, zur Revolte unfähige Bevölkerungsschicht selbst als Norm betrachtet und andere als anormal abstempelt? Sind die Mittelklassen die wahren Feinde der Demokratie?”, wird im Waschzettel der Amazon-Seite gefragt. Erwarten Sie bloß keine Antwort.


Bleibt zum Schluss die Frage, warum die Franzosen so schlechte Essays schreiben? Keine Ahnung, vielleicht weil es für Romane Lektorate gibt, für politische Essays aber nicht?


GUSTAV SEIBT: Die Rache als Lebensinhalt - Nathalie Quintanes Suada gegen die französischen Mittelschichten SZ-Besprechung von 09.04.2018
STEPHAN SPEICHER: Jetzt tut nicht so fein! Wachsende gesellschaftliche Unterschiede: Nathalie Quintane kühlt ihr Mütchen an der Mittelklasse FAZ-Besprechung von 21.04.2018


BARBARA EISENMANN:Nathalie Quintane "Wohin mit den Mittelklassen?" Ein kleines kluges Buch über die heutige Klassengesellschaft DLF 12.3.2018
http://www.deutschlandfunk.de/nathalie-quintane-wohin-mit-den-mittelklassen.1310.de.html?dram:article_id=412764

Zur Erholung empfehle ich:
Hans Magnus Enzensberger: Was ist so verführerisch am Freizeithemd? DER SPIEGEL 38/1976 http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41146951.html
oder: Hans Magnus Enzensberger: Von der Unaufhaltsamkeit des Kleinbürgertums. Eine soziologische Grille. In: Hans Magnus Enzensberger. Politische Brosamen. Frankfurt a.M. 1982, S.195ff