Donnerstag, 30. November 2017

Warum Franzosen so gute Bücher schreiben


Diese These ist von Iris Radisch, die darüber eine vergnügliches Buch geschrieben hat, das ich jedem ans Herz lege, der ein gewisses Interesse an französischen Schriftstellern der letzten 100 Jahre hat. Niemals zuvor hat eine Autorin so treffende und spöttische Beschreibungen literarischer Häupter und deren Weltzentrum Paris abgeliefert: 

Als Beleg mögen folgende Zitate dienen:
Über Sartre:
"Ein aufrechter Resistancekämpfer wie Camus' Freund Pascal Pia nannte Sartre dann auch in boshafter Anspielung auf die Vichy-Regierung den "Vichinsky vom Café de Flore". (S.12)
"... ein verbitterter Nelson Algren wird dem Playboy-Magazin anvertrauen, dass Beauvoir und Sartre andere Menschen in schlimmerer Weise benutzten als ein Zuhälter seine Prostituierte. Das war bösartig, aber nicht abwegig." (S.23)


Über die Befreiung von Paris im August 1944:
"Während die Alliierten auf Paris vorrücken und die Armee Leclerc schon vor den Toren steht, hat Paris beschlossen sich zu befreien. Und was machen der reizende Castor und Sartre? Was sie in den letzten Jahren immer getan haben. Sie sitzen morgens, mittags und abends im oberen Stockwerk des Café de Flore." (S.14)
"Der Wetterbericht meldet für den 19. August 39 Grad im Schatten. Die Pariser nehmen mitten im Aufstand ein kühlendes Bad in den Seine-Bädern. In den Zeitungen: Menschenmengen im Badetrikot." (S.15)
"Leiris notiert im Tagebuch: "Der Aufstand ist nur mehr der Hintergrund für einen durchaus angenehmen Abend." (S.16)


Über Paris:
"Paris ist für seine Schriftsteller mehr als eine Stadt. Es ist eine Lebensform und das Nationaltheater, auf dem die französische Kultur aufgeführt wird. " [...] Obwohl man nirgends so einsam sein kann wie in Paris - Camus nennt es im Tagebuch 'die einzig bewohnbare Wüste' - ist man hier niemals allein. Man bewohnt denselben urbanen Salon." (S.38f)

Über Nathalie Sarraute
"Das interessiert Nathalie Sarraute: die gekrümmten Seelen des französischen Bürgertums, die sich unter der Last der Floskeln winden." (S.58)

Über Sagan und 'Bonjour Tristesse'
"Seine Heldin ist eine in die Geschlechtsreife gekommene Pippi Langstrumpf aus der Pariser Bourgeoisie." (S.84)
"Françoise Sagan wird das erste Fräuleinwunder und der erfolgreichste französische Literaturstar der Nachkriegszeit, ein Kerouac mit großen braunen Kinderaugen und Perlenkette." (S.85)


Über Ionesco:
"Ionescos frühe Einakter waren von heiterer Sinnlosigkeit.Vater Ionesco (unter den Faschisten ein Rechtsintellektueller, unter den Kommunisten ein Linksintellektueller; RW) glaubte an die Macht. Sohn Ionesco an die Ohnmacht." (S.100)


Über Michel Leiris:
"So mutig wie die bewunderten spanischen Stierkämpfer wollte er sein Leben am Schreibtisch riskieren." (S.113)

Über die Mairevolte 1968:
"Sisyphos wälzte keine Steine mehr, er warf sie." (S.124)


Über Assia Djebar
"Assia Djebar gehört nicht zu den Menschen, die mit hängender Zunge durchs Leben hetzen." (S.141) 
 "Assia Djebar wird der Konflikt zwischen der Muttersprache des Herzens und der Vatersprache der Aufklärung bis zu ihrem Tod begleiten." (S.150)


Über das zwiespältige Verhalten der Schriftsteller maghrebinischer Herkunft und deren Illusionen: 
"Die Wirklichkeit hat einen träumenden französischen Schriftsteller allerdings noch nie aufgehalten." (S.152)

Über Daouds 'Fall Meursault': 
"Daoud hat versucht mit seinem Roman, "die Philosophie des Absurden vom Kopf auf die Plattfüße zu stellen." (S.158f)


Über die 80erJahre nach Sartres Tod:
"Ein neues Zentralgestirn ist nicht in Sicht. Man sieht im Fernsehen jetzt zwar ständig neue Philosophen. Aber man kann sich deren Namen nicht merken." (S.171)


Über Le Clézio:
"Sein Roman ('Die Wüste') enthält die bewährten Zutaten antizivilisatorischer Aussteigerliteratur von Mark Twain bis Henry David Thoreau und darüber hinaus eine kräftige Prise jener sandknirschender Verklärung, die auf Antoine de Saint-Exupéry und Albert Camus zurückgeht." (S.172/174).


Über Yasmina Reza:
"Yasmina Reza porträtiert in der Regel die nicht ganz normale, weil etwas besserverdienende, Pariser Mittelschicht um die vierzig - eine der sorglosesten und zugleich tragikomischsten Generationen aller Zeiten, die in der korrekten Handhabung der Küchengeräte und der kompetenten Nutzung der Fernsehkanäle die letzten metaphysischen Herausforderungen ihrer Epoche erblickt." (S.205)
Ihre Figuren sind  alle "Helden dieser überforderten, im französischen Konsumparadies umherirrenden Mittelschicht, mit deren Affären man sich nicht lange aufhalten würde, wäre da nicht Rezas immense Kunst, so verzweifelt komisch zu sein." (S.206)


S.212 Eine LISTE der französischen Schriftsteller, die über ihre Mütter nicht hinweggekommen sind.


Über Emmanuel Carrère:
"Die Suche nach dem Reich Gottes kann in diesem Roman guten Gewissens vertagt werden. Hier bereitet man zu dem Thema erst einmal einen Sonderdruck vor. Und ein paar Jahre später veranstaltet man dann vielleicht ein Symposium." (S.215)


Über Michel Houellebecq: 
"ein Literaturterminator mit Schwerbeschädigtenausweis, der unwiderruflich ein neues Zeitalter einläutet." (S.197) 
Und über sein Buch "Ausweitung der Kampfzone": 
"wieder einmal hat ein französischer Schriftsteller das Lebensgefühl einer ganzen Epoche vorweggenommen, noch bevor es allseits beklagt wurde." (S.197)
Houellebecq und Sartre:
"Michel Houellebecq tritt ein Erbe an, das nach Sartres Tod niemand übernehmen wollte - er schreibt zeitdiagnostische Gesellschaftsromane im Stile eines Pariser Chefideologen, der seinen Feldherrenblick über das Gewimmel seiner Epoche schweifen lässt." (S.219f)

Über Jonathan Littells 'Die Wohlgesinnten': 
Der Autor habe die französische Besonderheit des pornographischen Mystizismus mit den Grausamkeiten eines feinsinnigen SS-Mörders amalgamiert, was in diesem Fall zu einer toxischen Mischung und einem nur schwer erträglichen Roman führte. "Ein weiteres Mal gilt: Es schreiben ja nicht alle Franzosen gute Bücher." (S.180) 

Touche!

Und warum schreiben jetzt die Franzosen so gute Bücher?

"Inzwischen sind Pierre Michon und Marie NDiaye die legitimen Erben der verwaisten französischen Klassik. Ohne ihre auf zahllosen Parataxen balancierenden, mit Metaphern und Metonymien jonglierenden, absolut absturzsicheren Endlossätzen, mit denen man über beinahe jede Lebensklippe hinwegkommt, würden die Franzosen definitiv nur halb so gute Bücher schreiben." (S.191)
Und:
"Könnte es sein, dass die französischen Schriftsteller so gute Bücher schreiben, weil sie weder vor politischen Grenzüberschreitungen noch vor den Nachtseiten der Existenz zurückschrecken?" (S.219)

Eine Frage, keine Antwort, ein Gesicht erbleicht.




Zur Vertiefung

Mit mp3 zum download:
NDR kultur Klassik à la carte: Studiogast: Iris Radisch
Mittwoch, 11. Oktober 2017, 13:00 bis 14:00 Uhr
http://www.ndr.de/ndrkultur/sendungen/klassik_a_la_carte/Iris-Radisch-liebt-franzoesische-Literatur-,sendung697546.html#

Iris Radischs Streifzug durch die französische Literatur
von Rainer Moritz, MDR KULTUR-Sachbuchkritiker
https://www.mdr.de/kultur/empfehlungen/sachbuch-der-woche-iris-radisch-warum-die-franzosen-so-gute-buecher-schreiben-100.html